002.png

„Just in Time“ – technikhistorische Perspektiven der Logistik. 38. Technikgeschichtliche Tagung der Eisenbibliothek

Ort: Klostergut Paradies, Schlatt, Schweiz
Veranstalter: Eisenbibliothek, Stiftung der Georg Fischer AG; Kilian Elsasser, Reinhold Reith, Friedrich Steinle, Franziska Eggimann
Datum: 13.-14. November 2015

Felix Mauch, TU München
E-Mail:

Als „Theorie und Praxis der planvollen und kontrollierten Steuerung von Objekten in Raum und Zeit im Rahmen einer auf ständige Optimierung ausgerichteten Gesamtperspektive, wobei es sich bei den Objekten um Güter, Personen, Zahlungsmittel, Dienste, Informationen oder Energie handeln kann“, öffnen der schillernde Großbegriff „Logistik“ sowie die ihn umkreisenden Fahnenwörter und Definitionsversuche ein weites Feld – und halten nicht zuletzt für HistorikerInnen vielfältige Herausforderungen bereit.[1] Denn eine Annäherung an die Frage, was Logistikgeschichte überhaupt sei (und zu welchem Ende man sie studieren sollte), ist eine Aufgabe mit mindestens doppeltem Boden. Einerseits sind für die jüngste Vergangenheit weder ein Qualitätsschub noch der quantitative Zuwachs logistischer Strömungsbewegungen von der Hand zu weisen. Andererseits ist es relativ einfach, in den weltumspannenden Distributionsnetzwerken und grenzüberschreitenden Supply-Chain-Verschaltungen der Gegenwart Kontinuitäten zu entdecken, die sehr viel älter sind als die Managementlogiken der „Just-in-Time“-Fertigung. Gleiches gilt für das Beharrungsvermögen vermeintlich alter Technologien, etwa dem Frachtbrief oder Lastenaufzug. Es ist daher nur konsequent, die Chiffre einer „logistischen Revolution“, wie sie für die Schwelle des 21. Jahrhunderts bereits mehrfach proklamiert worden ist, einer historischen Revision zu unterziehen.  

Vor diesem Hintergrund glich die 38. Technikhistorische Tagung der Eisenbibliothek einer breit angelegten Spurensuche. Die von KILIAN ELSASSER (Luzern), REINHOLD REITH (Salzburg) und FRIEDRICH STEINLE (Berlin) ausgewählten Beiträge widmeten sich basalen Handelspraktiken der Ur- und Frühgeschichte ebenso wie touristischen Mobilitäten, stellten vormodernen Spediteuren und Militärstrategen eine Genderperspektive auf die Schweizer Bahnpost zur Seite, konfrontierten Objekte wie den Container oder die Laderampe mit den Schattenseiten ihrer Geschichte und verknüpften den Aufstieg computergestützter Prozessabläufe mit einer Vorausschau auf die logistischen Organisationsformen der Zukunft.

In seinem Einführungsreferat konkretisierte RICHARD VAHRENKAMP (Berlin) diese heterogenen Bezüge indem er auf die logistische Grundtrias von Transport, Lagerung und Umschlag im Zeitalter des Massenkonsums fokussierte. Dem explosionsartigen Aufkommen des Stückgutaufkommens sei in dessen Verlauf eine regelrechte „Verstopfungsproblematik“ entwachsen, zu deren Bewältigung die intermodale Verschaltung verschiedener Verkehrsträger vorangetrieben wurde. Derart koordiniert habe sich die „moderne“ Logistik von einer ergänzenden zu einer zentralen Funktion in den globalen Wertschöpfungsketten der Konsumgüterindustrie entwickelt.

Vahrenkamps Plädoyer für eine strukturelle Differenzierung deckte sich mit den Ausführungen HANS RUDOLF FUHRERS (Zürich). Seine Retrospektive der battaglia dei giganti im lombardischen Marignano präzisierte nicht nur die frühneuzeitlichen Anforderungen militärischer Verbraucherlogistik, sondern stellte gleichfalls die Gretchenfrage nach deren Einfluss auf Kriegsführung und -technik zur Diskussion. PAUL VAN HEESVELDE (Brüssel) griff diesen Gedankengang mittels einer Reflexion der strategischen Überlegungen Antoine-Henri Jominis auf. Darauf aufbauend führte er in die Herausforderungen der „letzten Meile“ ein. Diesen sei die Belgische Armee im Verlauf des Deutsch-Französischen-Krieges mit einer Anpassung des Eisenbahnnetzes an den Frontverlauf begegnet, was zwar die Versorgung der Truppen garantierte, den zivilen Güterverkehr per Schiene jedoch fühlbar verzögert habe. Dass technische Innovationen oftmals einen militärischen Ursprung aufweisen, stellte KURT MÖSER (Karlsruhe) seinem Vortrag über die Logistiken der Graben- und Materialschlachten des Ersten Weltkriegs voraus. Darin traten divergierende Nationalstile zutage, deren Organisationsformen mitunter in einem eminenten logistischen Vorteil der Entente gemündet seien. Möser vermochte darüber hinaus aufzeigen, dass Attribute wie Effizienz, Rationalität und Zeitoptimierung sukzessive in militärstrategische Lernprozesse überführt wurden, deren Resultate zusehends die Form einer „logistischen Kriegsführung“ annahmen.

Im darauffolgenden Panel führte EBBE NIELSEN (Luzern/Bern) archäologische Importfunde als Quellengattung des Handels- und Transportwesens in die Diskussion ein. Anhand prähistorischer Artefakte konnte er bereits für das Neolithikum weitverzweigte Kontaktnetze nachweisen, deren Güteraustausch lokale Kulturentwicklungen nachhaltig prägte. Daran anknüpfend rückte HANS-ULRICH SCHIEDT (Bern) den frühneuzeitlichen Spediteur in den Mittelpunkt seines „Crashkurses in vormoderner Logistik“. Dessen Funktion als Sicherheitspuffer zwischen Absender und Empfänger habe die Ausrichtung des Warentransports nicht nur dramatisch rationalisiert, sondern ließ auch das komplexitätsreduzierende Momentum der Logistik hervortreten, das in hohem Maß auf Parametern wie Routine und Vertrauen basiert. In einer vergleichend angelegten Fallstudie der Welser und Fugger ergänzte MARK HÄBERLEIN (Bamberg) den Katalog „weicher“ Logistikfaktoren um die Strategie der Risikostreuung. Indem beide Patrizierfamilien ihre Transportorganisation an selbstständige Fuhrleute „outsourcten“, konstituierten sich ihre Handelsimperien aus einem multilateralen Geschäftsmodell, welches primär auf Vertrauensbeziehungen (z.B. per Kreditvergabe) und Verfahren der Risikokalkulation bzw. -minimierung (u.a. Versicherungsabschlüsse, Stückelung des Gütertransports) gefußt habe.

Diese Aufstellung fortschreibend unterstrich STEFAN GEISSLER (Heidelberg/Zürich) nicht nur für den Seehandel des 19. Jahrhunderts die Bedeutung logistischer Informationstechniken. In seinen Ausführungen zur Lloyd’s List, die sein Vortrag als Katalysator einer sukzessiven Professionalisierung maritimer „Shipping Intelligence“ deutete, zeichnete er die Bestrebungen transnational agierender Kaufleute und Versicherer nach, die ihre Marktposition durch ein Höchstmaß an raum-zeitlicher  Koordination zu festigen wussten. Dass Logistik ohne begleitende Informationsströme nicht zu denken ist, hob HEIKE BAZAK (Bern/Köniz) anhand zweier Zäsuren der eidgenössischen Postgeschichte hervor. Ihr schienen sowohl die Einführung der Bahnpost als auch die der Postleitzahl einer systematischen Neu-Codierung des Zustellerprinzips geschuldet, dessen Nachwirkungen bis heute in der beinah vollständigen Automatisierung des Briefverkehrs immanent wären. Wie sehr derartige Standards Arbeitsmarkt und -alltag der Logistikbranche prägen, konnten die KonferenzteilnehmerInnen schließlich bei einem Besuch der Rhenus Contract Logistics AG in Schaffhausen in Aktion erleben. Egal ob Transportumschlag, Luftfrachthandling oder Datenträgermanagement – jedes zu befördernde Gut wird heute mindestens von einem Datensatz begleitet.

Technik und Artefakte des Massentransports setzten den Rahmen für die Referate von ALEXANDER KLOSE (Berlin) und MONIKA DOMMANN (Zürich). Während Letztere die „schmerzliche Seite“ logistischer Schnittstellen hervorkehrte und die Rampe als zwar neutrales, aber eben auch für  jeden Zweck einsetzbares Mittel – also auch für die Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus – dekonstruierte, warf Kloses Analyse normierter Trägersysteme abermals die Frage nach Brüchen und Zäsuren der Logistikgeschichte auf. Da der Container die geschlossenen Systeme heutigen Warenhandlings erst ermöglicht habe, galt ihm dieser als sichtbarster Ausdruck einer neuen Qualitätsstufe erdumspannender Materialflüsse. Die symbolische Komponente von Infrastrukturen präzisierte MARTIN KNOLL (Salzburg) in seiner Evaluation alpintouristischer Mobilitätsgefüge. Deren Destinationen seien stets in überregionale Netzwerke eingebunden und deshalb auch als Schnittstellen der Synchronisation von Verkehrsströmen beschreibbar. Ihr Alleinstellungsmerkmal läge jedoch in der Ambivalenz ihrer kulturellen Zuschreibung, deren transformative Kraft im präsentierten Fall des Kleinwalsertals eine gewisse sozialökologische Exzentrik nicht verhehlen konnte.  

Das letzte Panel läutete MICHAEL FARRENKOPF (Bochum) mit der Frage nach einer Genese des logistischen Systemgedankens im deutschen Steinkohlebergbau ein. Dabei legte er die Etappen eines im Vokabular der Betriebswirtschaften geführten Diskurses frei, der zwar die Implementierung effizienter Management- und Controllingstrukturen „unter Tage“ verbuchte, an dessen Ende jedoch auch die Abwicklung einer ganzen Branche stand. Von einer erfolgreichen Verwirklichung des „Just-in-Sequence“-Ideals vermochte im Anschluss RAGAH DORENKAMP (Köln) zu berichten. Dem anvisierten Ziel der Ford-Werke, die Ergiebigkeit der Massenproduktion mit der Qualität der Werkstofffertigung zu verbinden, schloss sich CLAUDE FISCHER (Schaffhausen) in seiner Darstellung der Lieferketten bei GF Piping Systems an. Gleichzeitig schlug er einen Bogen zur Ausgangsfrage der Tagung: Logistische Kernaufgaben wie Optimierung und Komplexitätsreduktion hätten sich in der Praxis kaum, technische Voraussetzungen, Skaleneffekte und Output hingegen fundamental verändert. Logistik – ob alt, modern oder gar revolutionär –, so sein Fazit, sei offenbar in erster Linie eine Frage der Definition.

Ob bzw. inwiefern der Revolutionsbegriff also in das Vokabular einer historischen Bewertung der Logistik inkorporiert werden sollte, vermochten weder eine Abschlussdiskussion noch GISELA HÜRLIMANN (Zürich) in ihrem finalen Kommentar endgültig zu entscheiden. Lassen sich zwischen spätmittelalterlichen Speditionsunternehmen und den programmatischen Entwürfen einer Industrie 4.0 retrospektiv tatsächlich produktive Verbindungen herstellen? Andererseits: Müssten nicht gerade auf diesem Feld klare Trennungen entsorgt und dafür fließende Übergänge betont werden? Folgt die Logistik nicht per se einer Stringenz der Verknüpfung? Dass ihre Geschichte immer auch als eine Ko-Evolution heterogener Kulturtechniken, ökonomischer Praktiken, medialer Infrastrukturen und ihrer Datenübertagung beschrieben werden muss, kristallisierte sich zunehmend als Kernthese der Tagung heraus. Wie sich diese Schnittstellen im Detail konstituieren, entscheidet sich jedoch von Fall zu Fall neu. Eine transhistorisch valide Definition der Logistik steht somit noch aus. Oder, wie im Verlauf der Tagung mehrfach konstatiert wurde: Es ist (und bleibt) kompliziert.

Tagungsprogram

Begrüßung und Einführung: Roland Gröbli

Einführungsreferat: Richard Vahrenkamp (Berlin)

Panel I: Militärische Logistik
Moderation: Kilian Elsasser (Luzern)

Hans Rudolf Fuhrer (Zürich): La Battaglia dei Giganti: Schlacht bei Marignano 1515. Hat wirklich nur die überlegene Logistik gesiegt?

Paul van Heesvelde (Brüssel): What we talk about when we talk about Logistics – Logistics, transports and the problems of the last mile in the Belgian army 1870-1918

Kurt Möser (Karlsruhe): Logistik im Ersten Weltkrieg

Panel II: Logistik in Handel und Transport
Moderation: Friedrich Steinle (Berlin)

Ebbe Nielsen (Luzern/Bern): Handel und Verkehr in der Schweizer Stein- und Bronzezeit

Hans-Ulrich Schiedt (Bern): Institutionen, Funktionen und Personal der frühneuzeitlichen Spedition: Crashkurs in vormoderner Logistik

Mark Häberlein (Bamberg): Fuhrleute, Säumer, Schiffer: Logistische Probleme und Praktiken der Augsburger Welser und Fugger (ca. 1500-1600)

Stefan Geissler (Heidelberg/Zürich): Die Lloyd‘s List – Grundlage der maritimen Logistik im 19. Jahrhundert?

Heike Bazak (Bern/Köniz): Geschichte der Postlogistik in der Schweiz

Besichtigung Rhenus Contract Logistics AG, Schaffhausen

Panel III: Logistik in Transport und Verkehr
Moderation: Reinhold Reith (Salzburg)

Alexander Klose (Berlin): Container in Ketten – Theorie und Geschichte der Logistik als Geschichte der Behälter, von der Antike bis heute

Monika Dommann (Zürich): Mittel für jeden Zweck: Archäologie der Rampe

Martin Knoll (Salzburg): Touristische Mobilitäten und ihre Schnittstellen

Panel IV: Logistik in der Industrie
Moderation: Reinhold Reith (Salzburg)

Michael Farrenkopf (Bochum): Logistik im deutschen Steinkohlenbergbau. Ein Mittel zur Steuerung eines effizienten Auslaufprozesses?

Ragah Dorenkamp (Köln): Die schlanke Fertigung und Just-in-Time-Logistik von Ford in Köln

Claude Fischer (Schaffhausen): Flexible zukunftsorientierte Logistik schafft Wettbewerbsvorteile bei GF Piping Systems

Resümee

Schlusskommentar: Gisela Hürlimann (Zürich)

Schlussworte: Yves Serra, Franziska Eggimann

Anmerkungen
[1] Christoph Neubert / Gabriele Schabacher, Logistik, in: Christina Bartz u.a. (Hg.), Handbuch der Mediologie. Signaturen des Medialen, München 2012, S. 164–169, hier S. 164.