Wieviel technisches Wissen braucht die Technikgeschichte? Für einen prozeßorientierten Ansatz
Volker Benad-Wagenhoff
Der älteren Technikgeschichte wird vorgeworfen, sie verfalle als »Ingenieurgeschichte der Erfindungen« einem platten Fortschrittsoptimismus, bringe eine »ingenieurwissenschaftliche Darstellung der technischen Entwicklung«, für sie stehe die »Frage nach den Funktionszusammenhängen des technischen Artefakts im Vordergrund«.
Obwohl derartige Vorwürfe ihre Berechtigung haben, muß widersprochen werden, denn es besteht die Gefahr, daß die Technikgeschichte von den unverzichtbaren Wissenspotentialen der Ingenieure und Techniker abgeschnitten wird. Eine Sozial- und Kulturgeschichte, die sich mit den Folgen der zunehmenden Technisierung befaßt, kann kein Ersatz für Technikgeschichte sein.
1. Unterschiedliche technische Wissensbestände
Technisches Wissen wächst aus vergangenen technischen Handlungen und zielt auf zukünftige. Da technische Handlungen in verschiedenen Bereichen (z. B. Produktion - Konsumtion, Beruf - Haushalt - Freizeit) und mit unterschiedlicher theoretischer Durchdringung stattfinden, gibt es technische Wissensbestände in ganz unterschiedlicher Gestalt. Für den Kernbereich der Produktionstechnik müßte man grob unterscheiden zwischen dem Wissen des Werkstattpraktikers, dem des im Betrieb tätigen Ingenieurs und dem des ingenieurwissenschaftlich tätigen Ingenieurs. Darüber hinaus wäre das technische Wissen der Anwender zu berücksichtigen. Alle diese Wissensbestände enthalten Elemente, die für den Technikhistoriker unverzichtbar sind. Es kann nicht angehen, z. B. das Ingenieurwissen als technikhistorisches Arbeitsmittel pauschal abzulehnen. Es geht vielmehr um die Frage, welche Elemente dieses Wissens sinnvoll in welcher Form genutzt werden können.
2. Ingenieurwissenschaft ist nicht gleich Ingenieurtätigkeit!
Ingenieurwissenschaften zielen auf Erkenntnis technischer Zusammenhänge. Die Ingenieurtätigkeit umfaßt viel mehr: Sie zielt auf das reale Funktionieren technischer Zusammenhänge. Etwas soll laufen, notfalls auch ohne wissenschaftliche Durchdringung. Ingenieure gehen pragmatisch mit quantifizierenden Methoden um, in einer Mischung aus wissenschaftlicher Theorie, systematischer Empirie und Praxis; sie schätzen ab, grenzen ein, arbeiten mit Sicherheitszuschlägen, um zu praktikablen (Zwischen)-Lösungen zu kommen. Ihre Fachkompetenz und ihre Vorgehensweise lassen sich historisch-kritisch gebrauchen. Historische und moderne Technik läßt sich ohne Ingenieurwissen, das über technisches Alltagswissen hinausgeht, nicht sachgerecht beurteilen.
3. »Alte« und prozeßorientierte Technikgeschichte
Erfinderkult und blinder Fortschrittsoptimismus sind der älteren Technikgeschichte nicht anzurechnen, denn die hat sie von der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts geerbt. Vorwerfen muß man ihr die Selbstbeschneidung ihres eigenen Problemhorizontes. Die Ingenieure haben Technikgeschichte betrieben, ohne ihre Fachkompetenz historisch-kritisch anzuwenden. Obwohl Ingenieurtätigkeit sich neben der Konzipierung technischer Sachsysteme immer auch der Herstellung und Anwendung widmet, blieb die von Ingenieuren betriebene Technikgeschichte eine reine Konstruktionengeschichte. Sie befaßte sich nur mit den Artefakten, mit deren idealisierter Funktionsweise und mit deren immer weiter fortschreitender Verbesserung. Herstellung und Anwendung von Sachsystemen als reale technische Prozesse blieben außen vor.
Wir brauchen dagegen eine prozeßorientierte Technikgeschichte. Obwohl immer wieder behauptet wird, die realen Abläufe in den Produktionsstätten seien historisch weitgehend erforscht, hat die Technikgeschichte diese Grundlagenarbeit erst noch zu leisten. Dazu braucht man das Wissen der Ingenieure und Techniker. Erst dabei wird man ein breiteres Bild der Einflüsse und Wechselwirkungen bei der technischen Entwicklung gewinnen, und erst auf dieser Grundlage wird die Technikgeschichte sinnvoll mit ihren Nachbardisziplinen kommunizieren können.
4. Zum Umgang mit technischem Wissen
Neue Zusammenhänge wird auch in der Technikgeschichte nur der entdecken, dem die Elemente, zwischen denen sie bestehen, vertraut sind. Das heißt, sich sowohl auf objektivierte und theoretische technische Wissensbestände einzulassen, als auch auf empirisch-sinnliche. Die Kunst besteht darin, mit beidem nicht zu weit zu gehen.
Für die umfassende ingenieurwissenschaftliche Beschreibung eines technischen Handlungszusammenhanges fehlen in aller Regel die genauen Daten. Der Technikhistoriker muß deshalb zwar Ingenieurmethoden benutzen, um Leistungsgrenzen des untersuchten Zusammenhanges grob abzuschätzen, aber darauf verzichten, detaillierte Szenarien zu entwickeln, die Scheinobjektivität vorspiegeln, wo Unkenntnis herrscht.
Auch die sinnliche Erfahrung verrät bei weitem nicht alles über technische Handlungen. Ich erfahre zwar mehr übers Drehen, wenn ich es selber versuche, aber ich weiß dann immer noch viel zu wenig, um den Arbeitsprozeß eines Drehers im 19. Jahrhundert hinreichend zu verstehen. Auch der Erfahrungsbericht des Drehers verschweigt manches, ich muß ihn durch ingenieurmäßiges Abschätzen ergänzen.
Die verschiedenen Formen technischen Wissens müssen kritisch miteinander konfrontiert werden. Dann ergänzen sie sich oder zeigen Widersprüche, die auf offene Fragen und Probleme verweisen. Hier kommen die Methoden des Historikers ins Spiel. Er muß nach dem Wahrheitsgehalt der Wissensbestände fragen, kann das aber nur, wenn er diese zuvor wahr- und ernstgenommen hat. Tut er das nicht, dann ist er kein Technik-Historiker.