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Ungeheure Visionen: zur Ambivalenz der technischen Gigantomanie in B. Kellermanns Roman "Der Tunnel"

Markus Krause

Wenn Literatur - woran kaum zu zweifeln ist - für Autoren wie für Leser als »Simulationsraum« denkbarer Realitäten fungiert (D.Wellershoff), der zeitgenössischen Wirklichkeit aber andererseits in vielerlei Hinsicht verhaftet bleibt, dann wird auch die literarische Darstellung fiktiver gigantischer Technikprojekte nicht nur Rückschlüsse auf die entsprechenden Dispositionen ihrer Zeit erlauben, sondern sich auch als Faktor im fortschreitenden Prozeß der gesellschaftlichen Verständigung über Technik lesen lassen.

1913 - und damit wenige Monate nach dem Untergang der »Titanic« und ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit seinem gigantischen Einsatz moderner (Vernichtungs-)Technik - erschien Bernhard Kellermanns Roman »Der Tunnel«. Die begeisterte Aufnahme bei der Mehrzahl der Kritiker wie beim breiten Publikum bezeugt, wie genau Kellermann mit seiner Schilderung eines gigantischen, aber bewußt nicht gigantomanisch angelegten technischen Projekts den Nerv der Zeit getroffen hat. Der amerikanische Ingenieur Mac Allan, Selfmademan und Erfinder des revolutionären Werkzeugstahls Allanit, konzipiert und erbaut unter größten technischen, wirtschaftlichen und persönlichen Schwierigkeiten den ersten unterseeischen Eisenbahntunnel zwischen Amerika und Europa. 26 lange Jahre dauern die Bauarbeiten, und ungeheuer sind die Opfer, die für die Realisierung des zunächst utopisch erscheinenden Vorhabens erbracht werden müssen.

Was den Roman auch heute noch lesenswert macht, ist das Bemühen, neben den im engeren Sinne technischen Aspekten des Projekts auch dessen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Kontext zu erläutern. Die Rolle der internationalen Finanzmärkte beispielsweise oder die problematische Funktion der öffentlichen Meinung bei der Durchsetzung technischer Großprojekte werden hier durchaus bewußt, wenn auch streckenweise oberflächlich reflektiert. Einer tiefgreifenderen Analyse der vielfältigen Einflußfaktoren steht vor allem entgegen, daß Kellermann das Geschehen von Beginn an stark auf die Person Mac Allans bezieht - der Tunnel ist allein sein Werk, mit ihm steht und fällt alle Aussicht auf ein glückliches Gelingen. Diese Reduktion des zunächst »übermenschlich« erscheinenden Vorhabens auf »menschliches« Maß erleichtert sicherlich das Verständnis der komplizierten Zusammenhänge. Andererseits führt die explizite Individualisierung - die ja bis heute aus den Diskussionen um großtechnische Projekte nicht ganz unbekannt ist - zumindest in der Sicht von außen zwangsläufig zu einer deutlichen Simplifizierung der komplexen Voraussetzungen, Bedingungen und Folgen einer technisch, logistisch und ökonomisch so ambitionierten Unternehmung.

Bezeichnenderweise wird die entscheidende Frage, die Frage nämlich, ob der Tunnel angesichts der technischen Probleme, die sein Bau aufwirft, und der menschlichen »Kosten«, die er erfordert, technisch wie ökonomisch zwingend notwendig ist, nur beiläufig gestellt - und sogleich ohne größere Skrupel positiv beantwortet. Das technisch Machbare erscheint hier (noch) ohne Einschränkung als das in jeder Beziehung Sinnvolle; je gigantischer, d.h. alle gewohnten Dimensionen sprengender das Projekt, desto fragloser das Verdienst aller Beteiligter. Dabei bezieht sich der positiv verstandene Gigantismus interessanterweise nicht nur auf die technischen Parameter des Vorhabens, sondern auch auf dessen wirtschaftliche und soziale Implikationen: Die reinen technischen Daten des Tunnels übersteigen, so suggeriert der Roman, das Begriffsvermögen des durchschnittlichen Zeitgenossen ebenso wie die Höheder notwendigen Finanzmittel oder die Größe der Arbeiterheere, die zu seinem Bau zusammenströmen - noch die pure Anzahl der Arbeitsunfälle wird in dieser Sicht nur zu einem weiteren Ausweis nie dagewesener und daher umso legitimerer technischer Ambitionen.

Ambivalent also erscheint die fiktive technische Gigantomanie allein in der kritischen Sicht des distanzierten Betrachters - in der Welt des Romans selbst sind alle denkbaren Ambivalenzen der Beurteilung von vornherein entschieden.