Mittelalterliche Flußumleitungen und Kanalbauten
Ralf Kreiner
Anhand dreier Beispiele soll ein Eindruck davon vermittelt werden, zu welchen Leistungen das frühe und hohe Mittelalter auf dem Gebiet des Wasserbaus fähig war und wo die Grenzen des technisch Machbaren lagen. Schon das erste uns bekannte Großprojekt eines Kanalbaus im Mittelalter beeindruckt, trotz seines Scheiterns, durch die technische und organisatorische Durchführung und die (möglicherweise) dahinterstehende Vision. Im Jahre 793 unternahm Karl der Große den Versuch die beiden Flußsysteme Rhein und Donau durch einen schiffbaren Kanal (»Fossa Carolina«) zu verbinden, und zwar an der auch nach heutiger geographischer Erkenntnis günstigsten Stelle, zwischen Schwäbischer Rezat und Altmühl. Geodätischer Ansatz und die Bauleitung lassen keine Kritik zu. Nach den Schätzungen von Hoffmann müssen wenigstens 6000 Schanzarbeiter eingesetzt gewesen ein, die den ca. 1500 m langen, 30 m breiten und durchschnittlich 6 m tiefen Kanal gruben. Angesichts ungünstiger geologischer und metereologischer Bedingungen sowie beunruhigender militärischer Nachrichten, mußte das ambitionierte Projekt bei Winteranbruch unvollendet abgebrochen werden. Das Werk ließ sich im frühen Mittelalter nicht wiederholen. Die erforderlichen Menschenmassen, Transportkapazitäten und Planungsstäbe standen kein zweites mal zur Verfügung.
Es dauerte aber nicht bis in das 14. Jahrhundert, wie die deutschsprachige Literatur suggeriert, bis neue Kanal- bzw. Flußumleitungsprojekte erfolgreich in Angriff genommen wurden. Schon im 10. Jahrhundert begann man im nordfranzösichen Artois zwei bis dato völlig getrennte Flußsysteme zu verbinden. Relativ bald nach 945/50 wurde das Wasser des Flusses Escrebieu bei Vitry zur Scarpe abgeleitet. Die technische Schwierigkeit, die einen großen Arbeitsaufwand erforderlich machte, lag in der Durchstoßung einer massiven Kreide-Erg-Schwelle mit einer Sohltiefe von 6-8 Metern. Schon das Wasser dieses »Multifunktionskanals«, dem weitere Zuleitungen folgen sollten, ermöglichte der neuen expandierenden Handelsstadt Douai die Anlage von Mühlen, die Bewässerung der Verteidigungsgräben und die Verbesserung der Schiffahrtsbedingungen. Der Ausbau des Systems führte aber in den folgenden Jahrhunderten zu einer unerwünschten Folgeerscheinung: der Versumpfung weiter Gebiete unterhalb von Douai, die man kaum mehr in den Griff bekam.
Im gleichen Zeitraum wie die lombardische Hauptstadt Mailand begann auch das aufstrebende Bologna mit dem Bau einer künstlichen Wasserstraße. Von 1221 bis zum Ende der 1270er Jahre wurde der ca. 36 km lange »Canale Navile« oder »Naviglio« erbaut. Durch ihn wurde Bologna ein für alle mal unabhängig von den Unwägbarkeiten seiner natürlichen Gewässer und erlangte den Anschluß an die bedeutendste Wasserstraße Italiens, den Po. Dieses Großprojekt mit Schleusen, Deichen und Kastellen, verdeutlicht den technischen und ökonomischen Fortschritt, der sich in den vier Jahrhunderten seit dem mißglückten Versuch der Anlage der »Fossa Carolina« ereignet hatte. Für die ökonomisch fortgeschrittendsten Städteregionen Europas kann man im 13. Jahrhundert den Begriff des »Großprojekts« schon mit ganz anderen Maßstäben messen, als für die Feudalgesellschaft des Frühmittelalters.
Alle drei vorgestellten Beispiele erfüllen die Kriterien für ein Großprojekt. Angesichts der beschränkten technischen und ökonomischen Möglichkeiten ihrer Zeit muß man der »Fossa Carolina« eine Tendenz zum Gigantischen attestieren. Dieses Projekt überstieg den Erfahrungshorizont des 8. Jahrhunderts bei weitem. Vom Vorwurf der Gigantomanie muß man König Karl und seine Planer aber freisprechen. Maßlose Ambitionen wurden ihnen ohne Zweifel erst von späteren Generationen zugesprochen.