Michael Hascher
Die Stromsystemfrage bei der Elektrifizierung der Eisenbahn in den 1950er Jahren
Die Eisenbahnen in Europa verkehren heute überwiegend auf Gleisen einheitlicher Spurweite (1453mm, Ausnahmen: v.a. Spanien, Portugal, GUS). Dieser Einheitlichkeit, die den europäischen Bahnverkehr eigentlich begünstigen sollte, stehen große Unterschiede beispielsweise bei Lichtraumprofil und Signalsystemen, vor allem aber bei den Stromsystemen gegenüber, die auf den elektrifizierten Strecken verwendet werden. Letzteres Problem kann zwar in den Lokomotiven prinzipiell technisch überwunden werden, die damit verbundene Kostensteigerung verhindert dies aber meist, so daß im Ergebnis der grenzüberschreitende Verkehr dennoch erheblich behindert wird.
Dieser Befund überrascht etwas, wenn man sich bewußt wird, daß wichtige Entscheidungen, die zum heutigen europäischen „Flickenteppich“ der Systeme führte, erst in den 1950er Jahren fielen, als etwa die Auseinandersetzung über die Spurweite schon in den Köpfen derer hätte sein müssen, die über das Stromsystem zu entscheiden hatten. In der Bundesrepublik Deutschland, um die es im Vortrag in erster Linie geht, waren dies die Spitzen der Bahn und des Bundesverkehrsministeriums, die dabei unter anderem vom Wissenschaftlichen Beirat des Bundesverkehrsministeriums beraten wurden.
Im Hinblick auf das Rahmenthema konzentriert sich das Referat auf die Rolle der Bahn als „Technikkonsument“ und die vermittelnde Rolle, die dabei der Wissenschaftliche Beirat und besonders dessen Gruppe „Verkehrstechnik“ als eine institutionalisierte Form der Technikbewertung spielten. In dieser Gruppe saßen ausschließlich Ingenieure, im Beirat insgesamt aber auch Ökonomen. Bei der Stromsystemfrage handelt es sich somit nicht nur um einen eher klassischen Fall der Technikvermittlung, in dem die es um Infrastruktursysteme geht, über die sich Akteure in staatlichen Institutionen auseinandersetzten, sondern auch um einen Fall, bei denen Ingenieure in der Vermittlung mit Ökonomen konkurrieren mußten.
Die Entscheidung, die dabei anstand, war im übrigen eher die der Befürwortung oder Ablehnung eines Systemwechsels als die des Aufbaus eines neuen Systems. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte es ein Abkommen gegeben, in dem sich Deutschland, Österreich, die Schweiz und die skandinavischen Staaten auf eine Elektrifizierung mit 15 kV Wechselstrom der Frequenz 16 2/3 Hz einigten. Andere Länder, u.a. Frankreich, Belgien und die Niederlande elektrifizierten dagegen einige Strecken mit Gleichstrom (1,5 oder 3 kV). Nach Versuchen seit den 1930er Jahren in verschiedenen Ländern (Ungarn, Deutschland, Frankreich) wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die Anwendung des Stromsystems diskutiert, das sich inzwischen bei der allgemeinen Elektrizitätsversorgung durchgesetzt hatte: Wechselstrom 25 kV, 50 Hz. Da in Deutschland die Elektrifizierung noch nicht so sehr vorangekommen war, erschien der Systemwechsel einigen Ingenieuren und Vertretern der Elektroindustrie als durchaus möglich. Daß schließlich in Deutschland doch weiter die ausgetretenen Pfade der Elektrifizierung beschritten wurden, während in Frankreich neue Strecken mit 50Hz elektrifiziert und damit ein Schritt hin zum Pfadwechsel vollzogen wurde, erscheint nicht nur im Zusammenhang der Technikvermittlung, sondern auch aus der Perspektive der Diskussionen um großtechnische Systeme und Pfadabhängigkeiten durchaus interessant. Schließlich berührt das Beispiel auch noch die Thematik des Nationalismus in technischen Fragen, denn das 50Hz-System wurde von den französischen Stellen (Bahngesellschaft SNCF, Industrie, Ministerium) auf mehreren Tagungen den anderen Bahnverwaltungen hartnäckig angepriesen.
Der Vortrag behandelt zunächst den Gang der Entscheidung und beleuchtet kurz deren Konsequenzen sowie den internationalen Kontext. Anschließend werden die Motive und Argumente bei der Bundesbahn als Nutzer wie den beratenden Ingenieuren und Ökonomen genauer analysiert.