Die Normalisierung einer "unästhetischen Prozedur" - Debatten über künstliche Befruchtung um 1910
Christina Benninghaus
Bereits im Verlauf des 19. Jahrhunderts, vermehrt jedoch nach der Jahrhundertwende wurden in Deutschland, ähnlich wie in Frankreich und den USA Versuche der "künstlichen Befruchtung" beim Menschen unternommen. Gemeint waren damit Verfahren der vaginalen oder intra-uterinen Insemination, wie sie in der Tierzucht seit Ende des 19. Jahrhunderts mit großem Erfolg angewandt wurden. In den Jahren um 1910 entwickelte sich eine in der medizinischen Fachpresse, in juristischen und in populärwissenschaftlichen Zeitschriften geführte Debatte über die technische Machbarkeit sowie über ästhetische und moralische Dimensionen der "künstlichen Befruchtung". Ausgelöst wurde dieses gesteigerte Interesse durch erste monographische Veröffentlichungen zur künstlichen Befruchtung einerseits, durch einen spektakulären Gerichtsprozeß, in dem es um die Ehelichkeit eines laut Aussage der Mutter durch künstliche Befruchtung gezeugten Kindes ging, andererseits.
Mein Beitrag stellt dar, mit Hilfe welcher Argumente Ärzte versuchten, gesellschaftliche Akzeptanz für ein auch aus ihrer Sicht äußerst "peinliches" Verfahren zu erreichen. Wie ich zeigen werde, wurde Kinderlosigkeit dazu als ein die Gesundheit von Frauen gefährdender Zustand definiert. Die Debatte um die "künstliche Befruchtung" war damit Teil der zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgenden Konstruktion der Krankheit "Sterilität".