Die Nebelkammeraufnahme - das automatisch generierte Laborbuch
Wolfgang Engels
Bis zur Entdeckung der ionisierenden Strahlung, der sogenannten Radioaktivität, wurde die fotografische Platte ausschließlich verwendet, um möglichst naturgetreue Abbilder der sichtbaren Welt zu erzeugen. Die von Henry Bequerel im Jahre 1896 zufällig beobachtete Schwärzung fotografischer Emulsionen unter der Einwirkung dieser neuen Art von Strahlung machte die nicht wahrnehmbare Energieform nun sichtbar und führte zur Etablierung einer neuen Forschungsrichtung. Da sich die Kontaktfotografie jedoch nicht als bilderzeugendes Verfahren zur Erforschung subatomare Prozesse verwenden ließ, diente sie nur für kurze Zeit als qualitatives Nachweisverfahren.
Erst als der schottische Physiker Charles Thomson Rees Wilson 1911 in der von ihm entwickelten Nebelkammer die Spur eines ionisierenden Teilchens in Form von Kondensspuren räumlich sichtbar machen konnte, ließen sich diese Vorgänge auch fotografisch dokumentieren. Es wurde nun möglich, einen natürlichen, aber nicht wahrnehmbaren Vorgang mit Hilfe eines Instruments in eine sinnliche Erfahrung zu überführen und durch Anwendung der Fotografie zu dokumentieren.
Die suggerierte Eigenschaft einer fotografischen Abbildung ist die Objektivität. Dieses Merkmal wird um so intensiver wahrgenommen, je weiter der Unsicherheitsfaktor Mensch als Experimentator durch technische Mechanismen ersetzt wird. Bei technisch generierten Bildern hält man Fälschung oder Schönung von Versuchsergebnissen für weniger wahrscheinlich, als dies bei Laborbüchern der Fall wäre.
Jedoch ist der Wunsch, mit dem suggestiven Mittel der Visualisierung ein physikalisches Ereignis zugänglich zu machen, deshalb problematisch, weil Nebelkammeraufnahmen nicht selbsterklärend sind. Die Transformation des Naturereignisses von der unsichtbaren Welt in die sichtbare übersteigt die menschliche Erfahrung und es entsteht die Frage: Was zeigt diese Form der wissenschaftlichen Fotografie tatsächlich und welche Stufen physikalischer und chemischer Prozesse mussten für die Entstehung des Dokumentes durchlaufen werden? Tatsächlich gibt eine Fotografie dem Betrachter sehr wenig darüber Preis, wie und mit welchen Mitteln sie entstanden ist. Die Folge aller erforderlichen Schritte, zur Erzielung, Sichtbarmachung und Fotografie eines bestimmten Effektes, ist auf dem Bild nicht erkennbar.
Nebelkammeraufnahmen repräsentieren eine Form wissenschaftlicher Dokumente denen selbstverständlich eine unbestechliche Objektivität und Glaubwürdigkeit garantiert zu sein scheint, jedoch zeigen die Experimente an der Universität Oldenburg, dass die Methode nicht nur der Wissensproduktion dient, sondern auch selbst zu einem realitätsschaffenden Apparat werden kann. Wilsons Experimente sind an der Universität Oldenburg mit einem originalgetreuen Nachbau der Nebelkammer wiederholt worden. Am Beispiel der gewonnenen Fotografien kann gezeigt werden, wie groß die Bandbreite der Darstellungsmöglichkeiten ist, wenn Fotolabortechniken erschöpfend zur Anwendung kommen und welche Wirkung sich mit ästhetisch ansprechenden Bildern in der Scientific Community erzielen lässt.