Ein klares Bild der 'Rassen'? Visualisierungstechniken der physischen Anthropologie um 1900
Christine Hanke
Anthropologische Identifizierungen von 'Rassen' werden im Zuge der Durchsetzung positivistischer Verfahren in den Wissenschaften seit etwa 1850 zunehmend mittels Techniken der Vermessung und statistischen Datenbearbeitung vorgenommen. Der physisch-anthropologische Diskurs begibt sich auf diese Weise in einen Modus mechanisch-metrischer Objektivität. Die Herausbildung neuer Identifizierungstechniken geht dabei mit dem Einsatz neuer Visualisierungstechniken einher: Körper werden mithilfe von Apparaturen als Karten projiziert, die dann vermessen und verglichen werden; Messdaten werden in Tabellen angeordnet und bringen gerasterte (individuelle und kollektive) Körper hervor; Häufungsschemata und an der Gaußkurve orientierte Kurven erzeugen Datenbereiche der Normalität und der Abweichung; Photographien folgen kriminalanthropologischen Identifizierungsstrategien oder stellen ihre - meist weiblichen - Objekte in Posen der Schönheit aus; wissenschaftlich fundierte Schädelrekonstruktionen erschaffen 'Portraits der Rasse' usw. Das erhoffte und beschworene klare Bild der 'Rassen' scheint sich dabei allerdings nicht zu ergeben.
Präsentiert und diskutiert werden die spezifischen Funktionsweisen, Produktivitäten und Effekte verschiedener physisch-anthropologischer Visualisierungstechniken, die im Hinblick auf ihre je eigenen performativen Effekte als 'bildgebende Verfahren' verstanden werden. Analysiert wird, auf welche Weise sie jeweils 'Rassen' hervorbringen, sie ins Feld der Sichtbarkeit heben und 'in die Augen springen' lassen, aber auch wie sich in ihnen gleichzeitig ein konstitutives Verfehlen der 'Rasse'-Identifizierungen abzeichnet. Darüber hinaus wird nach den gegenseitigen Verflechtungen der verschiedenen Visualisierungen und ihrem Verhältnis zu textuellen und metrischen Verfahren der physischen Anthropologie gefragt. In diesem Zusammenhang geraten auch Durchkreuzungen wissenschaftlicher und ästhetischer Praktiken in den Blick. In exemplarischen close readings anthropologischer 'Rassen'-Identifizierungen im "Archiv für Anthropologie" soll das Zusammenspiel heterogener Verfahren diskutiert werden: Inwiefern bestärken sich verschiedene Identifizierungs- und Visualisierungstechniken und wo bringen sie widerstreitende Effekte hervor? Die Identifizierung von 'Rassen' erscheint dabei als unabgeschlossener Prozess, der immer wieder durchkreuzt und unterlaufen wird, der auf diese Weise aber auch weiter motiviert und in Gang gehalten wird.