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Künstliche Materialien
Gemeinsame Jahrestagung der Gesellschaft für Designgeschichte (GfDg) und der Gesellschaft für Technikgeschichte (GTG)
vom 29. April bis 1. Mai 2016 im NRW-Forum Düsseldorf
von Andie Rothenhäusler und Carsten Thomas


Künstliche Materialien transformierten im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte nicht nur den Alltag der Industriegesellschaften. Sie revolutionierten Produk- tion und Produkte, indem sie die Grenzen des bis dahin technisch Machbaren aufbrachen, ihre Verbreitung hatte jedoch auch gravierende soziale, kultu- relle und ökonomische Auswirkungen. Gleichzeitig verfestigte sich gerade mit der Verbreitung der Kunststoffe eine wahrgenommene Dichotomie von Natürlichkeit und Künstlichkeit, die zum Leitmotiv von sich abgrenzenden Gegenbewegungen – von den Lebensreformern über die Ökobewegung bis zum um Authentizität bemühten Hipster des 21. Jahrhunderts – wurde und auch außerhalb dieser gesellschaftliche Resonanz erfuhr. Diese Dichotomie beeinflusst nicht nur, wie künstliche Materialien wahrgenommen werden, sondern wirkt auch in die Wahrnehmung des technischen Fortschritts an sich hinein. Insofern stellten künstliche Materialien ein ergiebiges Thema für die gemeinsame Jahrestagung der Gesellschaft für Technikgeschichte (GTG) und der Gesellschaft für Designgeschichte (GfDg)  dar.
Eine erste Auftaktveranstaltung fand am 28. April abends bei der Eröffnung der Ausstellung Plastic Icons – Design-Ikonen aus Kunststoff des Deutschen Kunststoff-Museums statt. Die Jahrestagung selbst begann mit einer Begrü- ßung und einführenden Worten von Siegfried Gronert (Vorsitzender der Ge- sellschaft für Designgeschichte, Weimar) und Dorothea Schmidt (Vorsitzende der Gesellschaft für Technikgeschichte, Berlin).
Das daran anschließende erste Panel des Tages stand unter dem Thema Materialsemantik und begann mit einem Vortrag von Kassandra Nakas (Ber- lin) zur Geschichte und öffentlichen Wahrnehmung des Aluminiums. Erst  im 19. Jahrhundert als Material erschlossen, stellte Aluminium lange Zeit einen „Möglichkeitsstoff“ dar, der von einer Aura des Modernen („Material der Zukunft“) umgeben war und die bildenden Künste ebenso beschäftigte wie die Science-Fiction-Literatur (beispielsweise in Form von Jules Vernes Mondgeschoss). Das positive Bild des Aluminiums änderte sich jedoch mit seiner Massenherstellung, die zur Abnahme der öffentlichen  Wertschätzung
 
führte; zudem wurden zunehmend die unberechenbaren Materialeigenschaften des Metalls kritisiert. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts erfuhr Aluminium eine neue und anhaltende Würdigung in Kunst und Architektur.
Mit Aluminium und Asbest beschäftigte sich der anschließende Vortrag von Franziska Müller-Reißmann (Zürich), der mit der Feststellung begann, dass manche Materialien – wie Gold und Menschenhaar – über Dekaden einen gleichbleibend hohen gesellschaftlichen Stellenwert innehaben, wäh- rend dies bei anderen nicht der Fall ist. Ein solcher Abstieg kann jedoch sehr unterschiedlich verlaufen: Aluminium und Asbest wurden früher beide als fortschrittlich, im Falle des Aluminiums sogar als nationale Schweizer Tugen- den wie Effizienz und Bescheidenheit verkörpernd wahrgenommen; während jedoch Asbest als karzinogene Substanz inzwischen fast vollständig aus dem öffentlichen Raum verbannt wurde, erlebte Aluminium als Massenprodukt höchstens einen Ansehensverlust und Befürchtungen über eine mögliche gesundheitsschädliche Wirkung werden zwar öffentlichkeitswirksam debat- tiert, wurden bisher aber noch nicht wissenschaftlich belegt. Die These der Referentin dazu lautete, dass der Ansehensverlust künstlicher Materialien möglicherweise umso stärker ausfällt, je mehr Fortschrittsversprechungen vorher mit ihnen verbunden waren.
Dass die Attribute „natürlich“ und „künstlich“ selbst auch einen Bedeu- tungswandel erlebt haben, stellte Johannes Lang (Weimar) im folgenden Vortrag dar. Danach seien Materialien im theozentrischen Weltbild vor der Industrialisierung davon abhängig als künstlich oder natürlich wahrgenommen worden, ob sie eine Bearbeitung erfahren hatten oder nicht. Mit der Industriali- sierung änderte sich das Materialbewusstsein insofern, dass nun geometrische Formen von mechanischer Relevanz als natürlich empfunden wurden, während die Natur imitierende oder rein schmückende Elemente (etwa nicht-tragende Säulen in barocken Kirchen) „unnatürlich“ wirkten. Die Herausbildung eines post-industriellen und ökologischen Materialbewusstseins  wiederum  ging mit einer Miteinbeziehung von Faktoren wie Naturbelassenheit und gesund- heitlicher Relevanz einher; gleichzeitig konnten mit ihm auch Artefakte aus Kunststoffen, welche in ihrer Formgebung biologische Strukturen imitieren, als „natürlicher“ wahrgenommen werden als ihre Gegenstücke mit geomet- rischer und strikt funktionaler Formgebung.
Das zweite Panel widmete sich den Einsatzbereichen von Materialien. Catarina Caetano da Rosa (Darmstadt) stellte in ihrem Beitrag prägnante Aspekte der Geschichte des Kautschuks aus einer transnationalen Perspektive dar, wobei sie nicht nur auf die Technikgeschichte des von ihr als „Kosmopo- lit“ gedeuteten Materials einging, welches sich von Südamerika über Europa nach Asien verbreitete, sondern auch sozial- und umwelthistorische Aspekte thematisierte wie den Abbau, die soziale Lage der indigenen Erntehelfer und die (oft scheiternden) Versuche von Forschungsreisenden und Industriellen, deren Wissen im Umgang mit dem Material zu  instrumentalisieren.
 
Dass Kunststoffe auch im Alltagsgebrauch eine politische Dimension aufweisen können, verdeutlichte der anschließende Vortrag Technikbegeiste- rung in der Küche – Haushaltswaren der Dynamit Nobel aus dem Kunststoff Pollopas (1931–1939), in dem Kay Meiners (Düsseldorf) verfolgte, wie Pollopas im Nationalsozialismus als „heimischer Werkstoff“ propagiert und seine Verbreitung stark gefördert wurde. Der duroplastische Kunststoff kam den nationalsozialistischen Autarkiebestrebungen entgegen, gleichzeitig wurden die bunten, technisch-stereometrischen Entwürfe des Designers Ludwig Königs (1891–1974) für die modernistische Funktionselite des NS vermarktet. Das Nachlassen der Konsumgüterproduktion mit Kriegsbeginn 1939 bedeutete allerdings auch das Aus für die inzwischen größtenteils ver- gessenen Pollopas-Produkte.
Im Anschluss beschäftigte sich Rebecca Wolf (Berlin) mit Surrogaten in der Musikinstrumentenherstellung, wobei sie einen besonderen Fokus auf Instrumente aus Glas und Plexiglas legte. Diese entstanden nicht erst in der Moderne; die von Benjamin Franklin entwickelte Glasharmonika inspirierte schon Mozart und Beethoven zu Kompositionen für das neue Instrument. Das 1933 als Marke eingetragene Plexiglas fand schon früh Verwendung als Ma- terial für Musikinstrumente, die traditionell aus Holz hergestellt werden, wie Geigen und Klarinetten, wobei es zumindest klanglich überzeugen konnte. Da die daraus gefertigten Instrumente jedoch gegenüber ihren Gegenstücken aus Holz keinen preislichen Vorteil boten und zudem eine geringere Haltbarkeit aufwiesen, war für die Nutzung von Plexiglas wohl eher die Faszination für das Material ausschlaggebend als praktische Gründe. Diese Faszination bezog sich auch auf eine dem Plexiglas zugedachte Rolle im Autarkiebestreben im Nationalsozialismus (ähnlich wie beim Pollopas im Vortrag  davor).
Nach Ende des letzten Panels wurde für die Tagungsgäste eine Führung durch die Ausstellung Plastic Icons – Design-Ikonen aus Kunststoff angeboten. Einen Einblick in neue Trends und Fertigungsmethoden lieferte im anschlie- ßenden Abendvortrag dann Karsten Bleymehl (Firmengründer Materials Research & Consulting), der mit seiner Firma Material- und Technologiere- cherchen für Unternehmen betreibt und vor dieser Tätigkeit für die Material- bibliothek Material ConneXion tätig war. Bleymehl stellte unterschiedliche Innovationen der letzten Jahre vor, etwa die Entwicklung „grüner“ Polyamide aus einer nachwachsenden Ressource wie Rizinusöl, das 3D-MID-Verfahren, bei dem Leiterbahnen direkt auf spritzgegossene Kunststoffbauteile aufge- bracht werden oder den größtenteils automatisiert gefertigten  Sportschuh Nike Fly Knit. Wichtig war dem Referenten der Verweis auf das Potenzial, das Wissenstransfers zwischen Materialherstellern, Ingenieuren und Desig- nern eröffnen und die damit einhergehenden Nutzeffekte in ergonomischer, haptischer und ökologischer Hinsicht.
Am Samstag begrüßte Esther Cleven (Gesellschaft für Designgeschichte) die Teilnehmer zum Panel Digitale Materialität. Cleven merkte an, dass    es
 
eine sehr große Zahl von Einsendungen zu digitalen Themen gegeben habe, was auf die Aktualität dieses Feldes hindeute. Die Popularität des 3D-Drucks, das als additive Fertigung nur einen Teilbereich von digitalen Designinnova- tionen darstellt, führe zu der Frage, wie Mensch-Maschine-Konstellationen beeinflussen werden, was in Bezug auf Material als Vorbild und was als „echt“ empfunden wird. Roland Grieder (Luzern) verfolgte im anschließenden Vor- trag, wie sich Computer von einem geschlossenen System mehr und mehr zu einem unsichtbaren Begleiter entwickelten, die durch Imitation des Realen (Digitale, visuelle Nachahmung von Materialien, Oberflächen, Strukturen, Klang und Haptik) fortlaufend unser Verständnis von Ästhetik gestalten. Dies evoziere die Problematik der Bestimmbarkeit der Herkunft von Ideen und  der Ungewissheit, ob es sich dabei um eigene oder (zufällig) vom Computer generierte und vorgegebene handele. Grieder folgerte, dass trotz zunehmen- dem Materialmix die echte Materialität weiterhin das Vorbild bleiben werde und es im Zuge von Gegenbewegungen zur Rückbesinnung auf Handwerk und Kunst kommen könne.
Dazu passend lieferte Martina Eberle (Bern/Zürich) mit ihrem Vortrag eine praxisorientierte Analyse der Designsprache der Datenmodelle eines 3D-Druck-Verfahrens, genauer, inwiefern Maker und Designer die Form und Gestalt ihrer reproduzierten Erzeugnisse auf speziellen 3D-Printing-Online- Plattformen generieren können, ob diese eine spezifische Ästhetik aufweisen und sich als Produkt jener Plattformen erkennen lassen. Die mit dem Web 2.0 entstandene Mentalität des kollaborativen Teilens nutzergenerierter Inhalte verändert, wie Gestaltungsprozesse und -prinzipien verstanden und ausgeführt werden. Die Rolle des Nutzers ist hier vor allem die des Designers; die 3D- Printing-Marketplaces dienen als frei zugänglicher digitaler Werkzeugkasten, in dem sich jeder selbst verwirklichen kann, ohne besondere Kenntnisse des Materials oder der Software an sich besitzen zu  müssen.
Eine Kontextualisierung des aktuellen 3D-Druck-„Hypes“ unternahm Annika Frye (Offenbach), die auf vorangegangene Wellen der digitalen Pro- duktion einging, welche oft vergessen werden. Das Zeichnen und Modellieren im kartesischen Raum des CAD-Programms bot seit den 1960er Jahren einen Zuwachs an Freiheit, das vom Material abgekoppelte Entwurfsmodell im Pro- gramm stand dem tatsächlichen Produkt jedoch nur vordergründig nahe. Dieser ersten Welle, die eine „Entmaterialisierung“ des Designs im digitalen Raum nach sich zog, wirkte die zweite Welle entgegen, die dem digitalen Zeichnen und Konstruieren nun die Tatsache hinzufügte, dass auch die Materialver- arbeitung einbezogen wurde. Die „digitalisierte Heißklebepistole“, wie der Kunststofffadendruck von Frye betitelt wurde, habe somit die Lücke zwischen digitaler Simulation und konkretem Artefakt geschlossen. Der Übergang von der Digitalität zum realen Modell und Endprodukt habe sich vereinfacht, die Arbeitsschritte wären allerdings auch heute noch nicht leicht  auszuführen.
 
Der letzte Panelbeitrag von Julia Wolf (Berlin) verließ den Bereich der generativen Fertigungsverfahren und ging auf die Konzept- und Produktent- wicklung sogenannter „Smart Materials“ ein, die aus sich selbst heraus auf Umweltbedingungen reagieren. Im vom Bundesministerium für Forschung und Bildung geförderten Konsortium smart³ treffen Designer und Materialexper- ten zusammen, um die Gestaltungsspielräume formverändernder Materialien auszuloten, zu denen unter anderem thermische Formgedächtnislegierungen, Piezokeramiken und dialektrische Elastomere zählen. Um Designern den Zu- gang zu dem komplexen Fachwissen zu erleichtern, wird ihnen das technische Know-how in einer „Toolsammlung“ präsentiert, wodurch in Synergieeffekten eine Brücke zwischen Designern und Materialexperten geschlagen wird. In der folgenden Debatte wurde kritisch angemerkt, dass die öffentliche Fixie- rung auf den 3D-Drucker dazu führen könnte, dass andere zukunftsweisende Entwicklungen in der Materialforschung unbeachtet  bleiben.
Nach der Mittagspause führte die Gesellschaft für Designgeschichte ihre Mitgliederversammlung durch, während die Gesellschaft für Technikge- schichte zwei Exkursionen in Düsseldorf anbot. Im Anschluss fand dann die Mitgliederversammlung der GTG statt, gefolgt von einem Sektempfang zum 25-jährigen Jubiläum der Gesellschaft.
Leider war Ulrich Wengenroth (München), der an diesem Abend den Festvortrag halten sollte, verhindert, weswegen sein Beitrag Ballast und Flü- gel: 25 Jahre gemeinsames Bemühen um die Technikgeschichte von Désirée Schauz (München) vorgetragen wurde. Wengenroth erinnerte darin an die Auseinandersetzungen, welche es noch zu Beginn der 1990er Jahre innerhalb der Disziplin zwischen dem internalistischen, eher den Technikwissenschaften zugewandten und dem kontextualistischen, eher den Sozialwissenschaften zugewandten Flügel gegeben habe. Die Defizite des ersteren verortete Wen- genroth in einer bequemen Theorielosigkeit, welche ideologische Positionen nicht als solche erkannte und unkritisch reproduzierte; defizitär beim zweiten sei eine bornierte Ablehnung technikwissenschaftlichen Wissens und eine Ver- schanzung hinter sozialwissenschaftlichen Positionen gewesen. Das Wegfallen des „Ballasts“ der alten Flügel in den letzten Jahrzehnten habe die Technikge- schichte als Disziplin anspruchsvoller, allerdings auch komplexer, plausibler und anregender gemacht. Abschließend rief Wengenroth die Anwesenden dazu auf, sich akademischen Moden zu verweigern, beweglich zu bleiben und „Freiräume in den Köpfen“ zu schaffen, welche eine ergebnisoffene und bestimmte Beschäftigung mit der Technik erst  ermöglichen.
Mit der Rolle von Kunststoffen als Bestandteil technischer Systeme beschäftigte sich am Sonntagmorgen das Panel „Material und Technologie“. Im ersten Vortrag des Tages verfolgte Susanne Jany (Berlin) die Entwicklung der Dialysetechnik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mittels einer die Harnstoffe aus dem Blut scheidenden Membran und den auf diesem Feld stattfindenden Wechsel  von organischen Materialien wie Schilfrohr,   Papier
 
und Pergament zum anorganischen Kollodium, Cellophan und modernen Polymeren. Vorteile boten die neuen Stoffe vor allem in Bezug auf Stabilität, Sterilisierbarkeit und die Möglichkeit der Serienfertigung; das Verfahren der künstlichen Blutwäsche selbst änderte sich durch sie nicht. Auch wurde die Debatte über sie weitgehend auf funktionaler Ebene geführt; eine ästhetische oder medizinethische Kritik der neuen anorganischen Materialien als „unna- türlich“ fand nicht statt.
Um verschiedene Aspekte von Künstlichkeit ging es im anschließenden Vortrag von Frank Dittmann (München), der mit den in der Elektrotechnik verwendeten Permanentmagneten eine ganze Gruppe von Materialien behan- delte. Da das in der Natur vorkommende Magnetit schwierig zu bearbeiten ist, wurden Dauermagneten schon früh durch Bestreichung von Eisen hergestellt. Nach einer anfänglichen Verwendung in den ersten elektrischen Geräten wur- den diese nach und nach von den zuverlässigeren Elektromagneten abgelöst, erlebten jedoch ab den 1930er Jahren durch die Entwicklung künstlicher Werkstoffe und Legierungen wie den Alnico-Metallen eine Renaissance. Dittmann hielt fest, dass Magnete insofern immer schon in unterschiedli- chem Ausmaß „künstlich“ waren, was der Grund sein dürfte, dass sich eine Diskussion „natürlich“ vs. „künstlich“ auf diesem Gebiet niemals entfaltete. Einen unkonventionelleren Materialbegriff wagte im nächsten Vortrag Wulf Böer (Zürich): Angesichts des Umstandes, dass Luft in Klimaanlagen transportiert und verteilt, erhitzt, abgekühlt und in ihrer chemischen Zusam- mensetzung manipuliert wird, stellte Böer die Frage, inwiefern Luft eher als synthetisches Material denn als natürliche Ressource gesehen werden sollte. Eingebettet wurde diese Fragestellung in eine Geschichte der Klimaanlage und ihrer Vermarktung als Instrument mit gesundheitsfördernder Wirkung mit
Konzentration auf die Vereinigten  Staaten.
Das letzte Panel des Tages wie auch der Tagung bestand aus einer Sektion zur Geschichte der Textilindustrie: Leonie Häsler (Basel) behandelte die Verbreitung von synthetischen Textilien unter besonderer Berücksichtigung sozialer, kultureller und ökonomischer Gesichtspunkte. Wurden Synthetik- fasern wie Kunstseide zu Beginn nicht als Täuschung der Konsumenten, sondern als „Demokratisierung“ kostspieligerer Naturstoffe empfunden, so verloren sie dieses Image wieder ab den 1960er Jahren, als sich eine neue Naturfaserindustrie mit prominenten Fürsprechern wie Umberto Eco und Jean Baudrillard entwickelte. Eine Dichotomie von Natürlichkeit und Künstlichkeit wird weiterhin propagiert, kann jedoch aufgrund der chemischen Prozesse bei der Herstellung „natürlicher“ Textilien und des weitverbreiteten Mischens von Natur- und Kunstfasern in Frage gestellt werden. Häslers Vortrag stellte eine erfreuliche Bereicherung der Tagung dar, da sie einen Punkt herausarbeite-  te, der in den Panels der Vortage oft nur anklang: Nämlich dass Mode auch über soziale Distinktion funktioniert, zahlreiche Vorteile eines künstlichen Materials (wie Pflegeleichtigkeit und größere Stabilität) für Konsumenten
 
bedeutungslos werden, wenn eine solche Distinktion nicht mehr gegeben ist und kostengünstigere Herstellung, sinkende Preise und Verfügbarkeit sogar einen Ansehensverlust bedeuten können.
Dieser Punkt wurde auch von Monika Burri (Luzern) aufgegriffen, wel- che die Entwicklung von Kunstseide, Krepp- und Taftstoffen in der Zürcher Seidenindustrie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anhand der Jahr- bücher von Unternehmen herausarbeitete. Wurde Viskose zu Beginn  noch als „veredelte Baumwolle“ wahrgenommen und war Kunstseide wegen der Überlegenheit des Stoffes anfangs noch ein positiv konnotierter Begriff, so änderte sich dies in der Zwischenkriegszeit, als das Material zu einem Massen- konsumgut wurde. Dies führte zu einer „Umkämpfung“ des Seidenbegriffes, der schließlich zur Einführung eines Schutzbegriffes und zur Etablierung von Kunstwörtern wie „Rayon“ für die Kunstseide  führte.
Eines der Leitthemen der diesjährigen Jahrestagung war die Dichotomie von „Künstlichkeit“ versus „Natürlichkeit“, welche auch als Oberthema des ursprünglichen Call for Papers gedient hatte1 und in den meisten Vorträgen thematisiert wurde. Eine endgültige Antwort auf die Frage, warum diese Ge- genüberstellung im täglichen Umgang mit Materialien überhaupt eine so große Rolle spielt, konnte das Programm leider nicht geben. Jedoch lieferten die ausgewählten Vorträge zahlreiche Versatzstücke zu ihrem besseren Verständ- nis; etwa, dass die Entscheidung für künstliche Materialien oder ihre explizite Ablehnung oft ein modisches Statement darstellen; dass die Verfügbarkeit und Verbreitung eines Materials seinen gesellschaftlichen Stellenwert beeinflusst; dass Debatten um „künstlich“ versus „natürlich“ in Technologiebereichen aus- blieben, in denen Modebewusstsein oder Konsumentenentscheidungen keine Rolle spielten; ferner, dass auch die Kategorien „natürlich“ und „künstlich“ selbst einem Bedeutungswandel unterworfen waren. Alles in allem bot die Jahrestagung ein vielfältiges Programm, das – etwa mit dem Panel Digitale Materialität – auch nicht davor zurückscheute, Themen aufzunehmen, die von für die Geschichtswissenschaften untypischer Aktualität sind.

Anschrift der Verfasser: Andie Rothenhäusler, Karlsruher Institut für Tech- nologie, Institut für Geschichte, Kaiserstraße 12, 76131 Karlsruhe, E-Mail: ; Carsten Thomas, Karlsruher Institut für Technologie, Institut für Technikzukünfte, Douglasstr. 24, 76133 Karlsruhe, E-Mail:

1 Künstlichkeit versus Natürlichkeit? Technik und Design neuer Materialien in Geschichte und Gegenwart, 29.4.2016 – 1.5.2016 Düsseldorf, in: H-Soz-Kult, 17.12.2015, Internet: http://www.hsozkult.de/event/id/termine-29731.