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Alfred Kirpal
Zum Verhältnis von natur- und technikwissenschaftlichem Denken in den modernen Technikwissenschaften (Halbleiterforschung)

Auf den Mediziner und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck geht die Einführung des Stilbegriffs in die Wissenschaftstheorie zurück. Er definiert den Denkstil als gemeinschaftliche Tendenz zur selektiven Wahrnehmung und zu entsprechender geistiger und praktischer Verwendung des Wahrgenommenen. Damit ist der Denkstil oder auch die Denkungsart Teil einer geistig-kulturellen Atmosphäre und spezifisches Tätigkeitsmerkmal der handelnden Wissenschaftlergruppe wie auch des einzelnen Wissenschaftlers. Seine Spezifik wird durch »gemeinsame Merkmale der Probleme« (Fleck) bestimmt.
Bezogen auf die Genese einer technikwissenschaftlichen Disziplin in der Einheit und Wechselwirkung kognitiver und soziale Faktoren und dabei vor allem auf die Ausbildung eines disziplinspezifischen kognitiven Prozesses bedeutet dies, daß sich in allen Geneseabschnitten deutliche Merkmale technikwissenschaftlichen Denkens im Vergleich zum naturwissenschaftlichen ausmachen lassen müssen. Der bestimmende Unterschied zwischen beiden Denkstilen ergibt sich durch die Verschiedenheit der Erkenntnisziele und durch die daraus abgeleiteten Methoden und Wege erkennender Tätigkeit. Zweifellos besteht das grundsätzliche Merkmal aller Technikwissenschaften, man könnte auch sagen ihr erkenntnistheoretischer Hintergrund, in der geistigen Vorwegnahme zu schaffender technischer Gebilde und in ihrer funktionalen und konstruktiven Beschreibung bis hin zur Ausarbeitung von geeigneten Herstellungsvorschlägen und -vorschriften.

Für die Halbleiterelektronik als eine moderne technikwissenschaftliche Disziplin besteht das disziplinspezifische Denken in der bewußten Kombination halbleiterphysikalischer Phänomene (z. B. der halbleitenden Eigenschaft bestimmter Materialien und der Möglichkeit der Leitfähigkeitsänderung durch elektrische Potentiale) in geeigneten strukturellen Anordnungen (z. B. Abfolge von PN-Übergängen) zur Erzielung einer technischen Funktion (z. B. Verstärkerwirkung des Transistors). Dieser technikwissenschaftliche Denkansatz läßt sich in der Genese der Halbleiterelektronik und der Schaffung adäquater technischer Objekte exakt nachvollziehen, wenngleich vielfache Unterscheidungen mit anderen technikwissenschaftlichen Disziplinen und auch der Halbleiterphysik vorhanden sind. So wurden, um nur eine der Überschneidungen und Rückwirkungen zu nennen, durch die experimentellen Möglichkeiten der Halbleiterelektronik auch die halbleiterphysikalischen Forschungen erweitert.

Die weitere Entwicklung in den modernen Technikwissenschaften zeigt, daß zunehmend multidisziplinäre Forschungsrichtungen entstehen, die sich integrierend vor allem am gemeinsamen Objekt orientieren und sozusagen technikwissenschaftlicher Disziplingenese »übergeordnet« oder auch »zeitlich vorgeschaltet« sind. Auch für die Untersuchung dieser Prozesse kann der Ansatz disziplinspezifischer Denkstile, der sich innerhalb des Dresdner Konzeptes zur Genese technikwissenschaftlicher Disziplinen bewährt hat, fruchtbar sein. Erweiterung ist gewiß in Richtung der Untersuchung weitergehender philosophischer und auch nationaler sozio-kultureller Einflußfaktoren notwendig.