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Unsichtbare Hände. Automatismen in Medien-, Technik- und Diskursgeschichte
Graduiertenkolleg "Automatismen. Strukturentstehung außerhalb geplanter Prozesse in Informationstechnik, Medien und Kultur", Universität Paderborn

04.02.2010-05.02.2010, Paderborn

Bericht von: Irina Kaldrack, Universität Paderborn
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Die interdisziplinäre Tagung "Unsichtbare Hände" stellte die Frage, inwieweit verteilte Handlungen und deren unbeabsichtigte Folgen produktiv mit der Metapher der unsichtbaren Hand untersucht werden können. Das 2008 gegründete Paderborner Graduiertenkolleg "Automatismen.
Strukturentstehung außerhalb geplanter Prozesse in Informationstechnik, Medien und Kultur" lud am 4. und 5. Februar Kultur- und Medienwissenschaftler, Technikphilosophen, Soziologen und Informatiker zum Austausch ein. Anhand unterschiedlicher Fallbeispiele wurde das Wechselspiel von Menschen und Technologie und deren Modellierung beleuchtet.

HARUN MAYE (Weimar) widmete sich in seinem Beitrag der Diskursgeschichte der Invisible Hand-Metapher. Ausgehend von Adam Smith diskutierte er, wie die unsichtbare Hand als Kollektivsymbol zugleich Theodizee- als auch Emergenzfragen im 18. Jahrhundert paradoxal zusammenzuhalten vermochte. Maye zog eine Linie von der Ökonomie über Geheimbünde und Schauerromane bis zur zeitgenössischen Medienwissenschaft. Die hand of providence - und damit deren Bezug zu einer göttlichen Vorhersehung - findet sich in verwandelter Form in aktuellen Medien- und Gesellschaftstheorien, etwa bei Niklas Luhmann, Elena Esposito, Sybille Krämer und Dieter Mersch.

Am Beispiel der Entstehung des Massenkonsums in den USA fragte DOMINIK SCHRAGE (Dresden) nach dem Verhältnis von technischen und institutionellen Prozesslogiken zu alltäglichen gesellschaftlichen Abläufen. Er argumentierte, dass konformistisches Sozialverhalten und gleichförmige Konsummuster weniger durch die automatisierten Fertigungsabläufe und der damit einhergehenden Standardisierung der Waren erzwungen würden. Vielmehr resultiere die zunehmende Gleichförmigkeit von Handlungsmustern und Lebenswelten aus dem Sicherheitsbedürfnis der Konsumenten und dem Streben nach Kontingenzreduktion in einer als unübersichtlich empfundenen, modernen Realität.

JUTTA WEBER (Uppsala) ging in ihrem Vortrag den epistemologischen und ontologischen Grundlagen der heutigen Technowissenschaftskultur nach. Sie stellte dar, wie sich darin eine "Techno-Rationalität" durchsetzt, die eine gewisse Unvorhersehbarkeit einbezieht. Entscheidend ist, dass die Programme selbstorganisierte Lösungsstrategien für komplexe Probleme entwickeln. Damit gehe eine Veränderung der Programmierpraxis einher, die sich von den spezifischen Lösungsverfahren zu deren Rahmenbedingungen verschiebe - das Verhältnis zwischen Kontrolle und Vorhersagbarkeit werde demnach derzeit neu gestaltet.

Am Beispiel der modernen Logistik beschrieb CHRISTOPH NEUBERT (Köln), wie durch Abstimmung von Material- und Informationsflüssen ein selbststeuernder Optimierungsprozess initiiert werden soll. Die Grundlagen dieses Logistikverständnisses verortete er bei frühen US-amerikanischen Supermarkt-Konzepten sowie beim Toyota-Produktionssystem. In beiden Fällen gelte es, so Neubert, die Lagerhaltung auf ein Minimum zu reduzieren und das System mit Feedback-Schleifen auszustatten. RFID, das "Internet der Dinge" und agentenbasierte Systeme spitzen Autonomisierung und Vernetzung weiter zu. Die Kluft zwischen Utopie und Technologie vermag jedoch auch der vermehrte Einsatz dieser "Technologien des Selbst" nicht zu schließen.

Der Beitrag von ROBERT DENNHARDT (Berlin) und PETER KOVAL (Berlin) befasste sich mit der Genese des elektronischen Schaltplans. Robert Dennhardt fokussierte auf frühe Schaltentwürfe Ende des 19. Jahrhunderts. Er zeichnete den graduellen Standardisierungsprozess nach, den der Schaltenwurf bei der Übertragung vom Tisch zum Papier durchläuft. Die Übertragung ins Modell verlief jedoch nie restlos - vielmehr verschaffe sich, so Dennhardt, das Residuum eigene Geltung.
Peter Koval schrieb diese Entwicklungsgeschichte fort, indem er an drei Stationen die Antriebskräfte hinter der Automatisierung des Schaltentwurfs diskutierte. Dabei beschrieb er Übergänge von einer zeitlichen Entwurfsökonomie im Rahmen maschinenlesbarer Transkriptionen über die Materialitätsproblematik der Entwurfsschablonen bis hin zur Codierung des Entwurfs durch Software in CAD-Datenbanken.

Das von ANNETTE BRAUERHOCH (Paderborn) zusammengestellte Kurzfilmprogramm "Automatische Körper" beendete den ersten Konferenztag. Automatismen wurden als Prozesse sichtbar gemacht, die hinter dem Rücken der Beteiligten stattfinden: So "ent-automatisiere" etwa die handgreifliche Demontage eines Autostaus das Ford'sche Prinzip des Fließbands (James Parrott: Two Tars, 1928). Die französische Avantgardistin Germaine Dulac inszenierte die unbewussten Gesten im Alltag einer Ehe als Automatismen von Routinen und Verzweiflung, denen nicht zu entkommen ist (La Souriante Mme Beudet, 1922). Auch eine filmische Provokation bezüglich der Automatismen männlicher Sexualität fehlte nicht: der Frankfurter Künstler Karsten Bott nutzte die Technik der Super8-Kamera, um handgreifliche Abläufe zu beschleunigen (Wichsfilm, 1989). Der in rhythmischen Sprüngen und Wiederholungsschleifen gestaltete Film der österreichischen Künstlerin Mara Mattuschka übersetzt die technischen Abläufe der Schreibmaschine in eine Performance. Ihr blutender Kopf wird zum Typenkopf, der "Farbe" auf eine Fläche aufträgt (Kugelkopf, 1985). Abgerundet wurde das Programm von einem Experimentalfilm aus dem Jahr 1988 über Lemminge. Aus der Vorlage einer Walt Disney "Naturdokumentation", die den berühmt-berüchtigten Massenselbstmord von Lemmingen zum Gegenstand hatte, wurde ein ironischer Kommentar zu den "automatischen" Mythen über Natur.

MATTHIAS WITTMANN (Basel) eröffnete den zweiten Tag mit einer Analyse von "Orlacs Hände". Der österreichische Heimkehrerfilm von 1924 diente ihm zur Veranschaulichung der Metapher der unsichtbaren Hände am Beispiel psychischer Traumata von Invaliden des Ersten Weltkrieges. Im Film werden Hände und eine ihrer Ausdrucksformen, die Schrift, zum essentiellen Erinnerungsmedium. An den Händen manifestieren sich Traumata, die wiederum in der Schrift zum Ausdruck kommen.

JOY KRISTIN KALU (Berlin) befragte die Wiederholbarkeit von Bewegung als Grenzen von Automatismen und Automatisierung. Am Beispiel einer aktuellen Inszenierung der Wooster Group (Hamlet, 2006) arbeitete sie die Schwierigkeit heraus, körperliche Bewegung exakt zu imitieren. In Hamlet agieren die Schauspieler im Dialog mit einem Theatro-Film von 1964. Sie reinszenieren das Schauspiel sowie die Kamerabewegungen und Verfremdungseffekte des (nachträglich bearbeiteten) Films. Demnach läge genau im Scheitern der Verkörperung der technisch-ästhetischen Verfahren die Stärke der Live-Performance im Theater. Denn: Die Leiblichkeit der Schauspieler übersteigt die Materialität ihrer medialen Vorbilder.

MARTINA LEEKER (Bayreuth) setzte an der positiven Wertung von Automatismen im zeitgenössischen Tanz an. Nichtbewusste Bewegungen werden genutzt, um eine Ästhetik der Emergenz, des Unabgeschlossenen und der Veränderbarkeit zu schaffen. Am Beispiel von Wayne McGregors aktuellem Choreografie-Projekt "Dance and Cognition" stellte sie dar, wie der Einsatz von Technologie in der künstlerischen Praxis darauf zielt, Automatismen zu optimieren und kontrollierbar zu machen. Solche Art der Anwendung schließt an eine Tradition der Kybernetik an, in der das Nichttriviale durch die Kopplung von Mensch und Computer in operational geschlossene Systeme getragen wird. Leeker diskutierte an Arbeiten von Gordon Pask und Heinz Foerster, welche unterschiedlichen Bezugsweisen zwischen Mensch und Computer entworfen werden und welche Rolle die künstlerischen Praktiken darin einnehmen.

WOLFGANG COY (Berlin) untersuchte in seinem Vortrag die unkontrollierbaren Folgen technischer Erfindungen. An konkreten historischen Beispielen aus der Computergeschichte zeigte er, dass nahezu unkalkulierbar ist, welche Technologien sich jeweils durchsetzen werden. Demnach gibt es keine vorhersehbaren Regeln, nach denen beispielsweise SMS und Twitter ein Erfolg wurden, der Bildschirmtext aber nicht. Coys Vorschlag war, dass vor allem enabling technologies erfolgreich sein müssten: Technologien, die Möglichkeiten der Nutzung bereit stellen, aber keine spezifische Nutzung erzwingen. Deren Vorhersehbarkeit sei allerdings höchstens in der Art eines "deterministischen Chaos" gegeben, klare Kriterienkataloge zur Entwicklung solcher "befähigenden Technologien" stünden aus.

In den Diskussionen wurde deutlich, dass unsichtbare Hände als Metapher funktionieren, mit der die Kluft zwischen beobachtbaren Phänomenen und ihrer Unerklärbarkeit überbrückt werden soll. Sie treten auf, um Kontingenz und Emergenz handhabbar zu machen. Das Verhältnis zwischen Planbarem und Unplanbarem wird dabei maßgeblich durch Technologien organisiert. Diese erlauben, die Kontrolle ein Stück weit in den Raum des Unplanbaren auszudehnen. Zugleich stellen sie den zentralen Bezugspunkt für solche Metaphern und Denkfiguren dar, mit denen ein vollständiger Umschlag in der Sichtweise auf Planbarkeit angezeigt werden soll.

An dieser Schnittstelle von Kontrollierbarkeit und Unkontrollierbarkeit, von Modellen einerseits und technischen sowie künstlerischen Prozessen andererseits, sind auch Automatismen zu verorten. Ihre Ambiguität macht sie gleichermaßen anschlussfähig an Utopien vollständiger Kontrolle als auch an Heilserwartungen einer ihnen innewohnenden kreativen Kraft. Die Auseinandersetzung mit der Metapher der unsichtbaren Hände hat dabei einen entscheidenden Punkt ans Licht gebracht: Die Utopien selbst können sich zu einem mächtigen Regime verknüpfen, das retrospektiv beobachtbar, aber eben nicht vorhersagbar ist.