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'Pleitiers' und 'Bankrotteure'. Zur Geschichte ökonomischen Scheiterns im 19. und 20. Jahrhundert

Roman Rossfeld, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
der Universität Zürich; Ingo Köhler, Georg-August-Universität Göttingen
03.09.2009-04.09.2009, Zürich

Bericht von: Christina Lubinski, Deutsches Historisches Institut Washington DC
E-Mail:

Im Schatten des „heroischen Entrepreneurs“ (Schumpeter) tummeln sich
unzählige „Pleitiers“ und „Bankrotteure“, deren unternehmerischen
Abenteuern wenig Erfolg beschieden ist. Obwohl Scheitern alltäglich ist,
dringen die gescheiterten Unternehmer und Wirtschaftsorganisationen nur
in wenigen, spektakulären Ausnahmefällen in das öffentliche Bewusstsein
ein. Zwar sind historische Parallelen von Krisen, Rezessionen und
Scheitern in der derzeitigen Wirtschafts- und Bankenkrise en vogue. In
langfristiger Perspektive verlieren sich die Schicksale gescheiterter
Unternehmer aber wieder. Die publizistische Öffentlichkeit, die auf
Erfolg ausgerichtete Masse der Ratgeberliteratur und auch die
historische Forschung verbannen Misserfolge weitgehend aus der „success
story“ der modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft.

Das Vorhaben, ökonomisches Scheitern historisch zu analysieren, zu
welchem die Veranstalter ROMAN ROSSFELD (Zürich) und INGO KÖHLER
(Göttingen) am 3. und 4. September 2009 nach Zürich einluden, hat vor
diesem Hintergrund nicht nur hohe Aktualität, sondern ist auch ein
wichtiges Desiderat der Forschung. So ist der Begriff des Scheiterns
weder definiert noch sind seine Ursachen und Folgen für die betroffenen
Unternehmen und Unternehmer in wirtschafts- und kulturhistorischen
Zusammenhängen bislang untersucht.

Die Tagung legte Grundlagen, um das Thema für die weitere Forschung zu
öffnen und zentrale Fragen zur Diskussion zu stellen. Strukturiert durch
ein einleitendes Referat, in dem Köhler und Rossfeld den theoretischen
Rahmen des Tagungsthemas entwarfen, stellten die Teilnehmer der Tagung
die soziologische Definition von Scheitern als „temporäre oder
dauerhafte Handlungsunfähigkeit“ in Frage und hoben die Differenz
zwischen dem Prozess- und Ereignischarakter des Scheitern hervor.
Weiterhin sahen sie es als notwendig an, sich mit den multidimensionalen
Ursachen für ökonomisches Scheitern zu beschäftigen und diese in exogene
(konjunkturelle oder politische) sowie endogene Faktoren
(Innovationsschwäche, Strukturdefizite und auch persönliche Defizite und
Verfehlungen) zu kategorisieren, um neue methodische Zugänge zu dem
Thema zu gewinnen. Immer wieder wurde in diesem Kontext auf die
Bedeutung von ökonomischen und sozialen Netzwerken als stabilisierende,
aber auch partiell den Misserfolg forcierende Kraft in Phasen
unternehmerischer Krisen hingewiesen. Einen weiteren Schwerpunkt bildete
die Diskussion von unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen
Deutungsmustern, die sich mit der Interpretation von Scheitern verbinden
und die im Zeitverlauf von der Vor- bis zur Postmoderne nachhaltigen
Wandlungsprozessen unterworfen waren.

Die Tagung folgte einem systematisch-chronologischen Aufbau von der
Frühindustrialisierung bis zur Wirtschaftskrise der 1970er-Jahre. Im
ersten Block, der sich mit dem 18. Jahrhundert und dem Scheitern als
individuellem Unternehmerschicksal befasste, begann MARGRIT SCHULTE
BEERBÜHL (Düsseldorf) mit ihrem Beitrag über Bankrotteure im London des
18. Jahrhunderts. Basierend auf der Entwicklung von Konkurszahlen seit
den 1770er-Jahren zeigte sie am Beispiel der deutschen Kaufleute in
London die Bandbreite an unterschiedlichen Reaktionen auf das
persönliche Scheitern, die von ökonomischen Einbußen über
Reputationsverluste und soziales Scheitern bis zum Selbstmord reichten.
Gleichzeitig belegte sie, dass einigen Bankrotteuren insbesondere dank
ihrer sozialen Vernetzung schnell ein unternehmerischer Neuanfang
gelang. Stärker theoretisch argumentierte FLORIAN SCHUI (London), der
sich mit dem französischen Ökonom und Minister Jean-Baptiste Colbert und
seiner Rezeption befasste. In seinem Referat warf Schui unter anderem
die klassische Frage auf, wie viel Staat die Wirtschaft brauche bzw.
vertrage und zeigte, dass Colbert bis heute ein Symbol für eine zu
starke Intervention des Staates sei. In dem Kommentar von ALEXANDER
ENGEL (Göttingen) und der anschließenden Debatte ging es zunächst um die
Definition von Scheitern als Handlungsunfähigkeit sowie die Rolle von
Netzwerken als „Auffangnetz" des ökonomischen Absturzes. Vielfach sei
den Akteuren eine Form der Handlungsfähigkeit verblieben, die es ihnen
erlaubte, einen schnellen Wiederaufstieg zu realisieren.

Der zweite Block „Industrialisierung und Liberalisierung: Scheitern in
der bürgerlichen Wachstumsgesellschaft des 19. Jahrhunderts“ schloss an
diese Debatte an und erweiterte sie in zweierlei Hinsicht. Zunächst warf
CHRISTIAN SAEHRENDT (Berlin) mit seinen Ausführungen über den
unternehmerisch handelnden und marktbewussten „Künstler-Star“ Gustave
Courbet einen neuen Blick auf das ökonomische Scheitern. Künstler seien
mit dem Paradoxon konfrontiert, den Erfolg des Marktes zu suchen und
sich gleichzeitig vom Markt abgrenzen zu müssen. Den Zusammenhang von
persönlichem und institutionellem Scheitern untersuchte anschließend
ROMAN ROSSFELD (Zürich), der sich mit dem Schweizer Unternehmen „Lucerna
Anglo-Swiss Milk Chocolate Co.“ (1904-1911) auseinandersetzte. Den
Bankrott dieses Schokoladenproduzenten führte er unter anderem auf
veränderte Marktbedingungen und das unprofessionelle Verhalten von
Führungskräften zurück. Gleichzeitig gab Rossfeld mit der Lucerna ein
Beispiel, das die Relativität von Scheitern unterstreicht: zwar musste
das Unternehmen Insolvenz anmelden, wurde jedoch anschließend von einem
neuen Besitzer erfolgreich weiterbetrieben. Der Kommentar von CHRISTOF
DEJUNG (Konstanz) und die anschließende Debatte griffen diese
Relativität von Scheitern auf. Dabei erwies sich der Tagungstitel
„Ökonomisches Scheitern“ ungewollt als geschickter Doppelbegriff, der
nicht nur das Scheitern im Feld der Ökonomie beschreibt, sondern auch
impliziert, dass Scheitern mitunter rationale und effiziente Elemente in
sich trägt. Letztlich ergab sich in der Diskussion, dass die Frage, ob
jemand gescheitert sei, nur in Abhängigkeit von individuellen
Präferenzen und Motiven zu beantworten ist. So konnte Erfolg im
künstlerischen Milieu auch bedeuten, keinen Erfolg am Markt zu haben und
damit als Avantgarde bestätigt zu werden. Scheitern sei deshalb immer
von persönlichen Zielen abhängig. Gerade für die Diskussionen des
zweiten Blocks war deshalb die bürgerliche Gesellschaft des 19.
Jahrhunderts ein wichtiger Bezugspunkt, in welcher ökonomisches
Scheitern ein Tabu darstellte, das Scheitern des Künstlers jedoch
wesentlich positiver interpretiert wurde.

Der dritte Block „Prekäre Wechsellagen: Scheitern in den 1920er und 30er
Jahren“ begann mit dem Beitrag von HEIKE KNORTZ (Karlsruhe), die den
Bezug zwischen Netzwerken und Scheitern aus eher
wirtschaftstheoretischer Perspektive wieder aufgriff. Mit Hilfe von
Porters Theorie ökonomischer Netzwerke analysierte sie das Scheitern
innerhalb eines regionalen Unternehmensclusters in Lahr (bei Freiburg).
Gerade die räumliche Nähe verwandter Industrien sorge für einen
stimulierenden Wettbewerb, der sich positiv auf den wirtschaftlichen
Erfolg auswirke, wohingegen sich in „zurückgebildeten“ Clustern kein
dynamisches Potential und keine Anreize für Innovationen fänden. In dem
zweiten Referat erörterte ROMAN WILD (Zürich) die multidimensionalen
Gründe für den Niedergang der Basler Seidenbandindustrie in den
1920er-Jahren. Marktveränderungen und der sich wandelnde Kundengeschmack
trugen ebenso zu diesem Prozess des Scheiterns bei wie
Konkurrenzstrukturen und Schutzzölle. Er erörterte diesen Prozess unter
Rückgriff auf Grabhers Lock-in-Konzept, mit welchem auch die negativen
Folgen räumlicher Ballungen hervorgehoben werden sollen. MARGRIT MÜLLER
(Zürich) unterstrich in ihrem Kommentar noch einmal, dass ein
„geordneter Rückzug“ in Krisenzeiten durchaus als eine erfolgreiche
ökonomische Strategie zu bewerten sei. Zudem stellte sie die
unterschiedliche Bedeutung von exogenen und endogenen Faktoren in den
Fallbeispielen heraus, welche die Trennlinien zwischen institutionellem
und individuellem Scheitern verdeutlichten.

Damit leitete die Diskussion bereits auf die stärker biographischen
Ansätze über, die im folgenden Panel als Zugang zur Analyse des
ökonomischen Scheiterns gewählte wurden. MICHAEL JURK (Frankfurt am
Main) plädierte in seinem Referat über den Bankier Jakob Goldschmidt und
den Zusammenbruch der Danatbank (1929-1931) dafür, nicht die persönliche
Schuld in den Blick zu nehmen, sondern das gezeigte individuelle Handeln
im Kontext von Zwangslagen und Handlungsspielräumen zu interpretieren,
die maßgeblich durch die prekären politischen und ökonomischen
Rahmenbedingungen der Weimarer Republik beeinflusst wurden. Komplementär
zu den Ausführungen von Jurk erörterten BORIS GEHLEN (Bonn) und TIM
SCHANETZKY (Jena) das Handeln und Selbstverständnis der Unternehmer Paul
Silverberg und Friedrich Flick und ihr Verhältnis zum Staat in der
Weltwirtschaftskrise. In dem Machtkampf um die Rheinische
Aktiengesellschaft für Kohle, Bergbau und Brikettfabrikation zu Beginn
der 1930er-Jahre setzte sich Flick gegen den jüdischen Unternehmer
Silverberg durch, was die Referenten vor allem auf die unterschiedlichen
unternehmerischen Handlungsstrategien und Persönlichkeitsstrukturen der
beiden Akteure zurückführten. Anders als die Theorie sozialer Netzwerke
nahelegen würde, scheiterte Silverberg trotz seiner hohen sozialen
Vernetzung in dieser Krisensituation, während sich Flick mit eher
unorthodoxen und risikoreichen Handlungsstrategien durchsetzte. Dies bot
eine hervorragende Grundlage, um in der Diskussion den Zusammenhang von
Scheitern und Normenverstößen aufzugreifen.

Im vierten Block „Grenzen des Wachstums: Scheitern in der Krise der
1970er Jahre“ erörterte INGO KÖHLER (Göttingen) die Rolle der
Wirtschaftswunder-Manager in den 1970er-Jahren. Er basierte seine
Ausführungen auf Insolvenz- und Vergleichszahlen und erörterte
anschließend den Prozess des Scheiterns und die damit verbundenen
Krisendiskurse, die sich am Lebenszyklusmodell des Unternehmens
orientierten und aus heutiger Sicht eigenartig anmutende medizinische
Metaphern wählten, um die Krise zu entpersonalisieren und auf exogene
Einwirkungen zu reduzieren. Dagegen kontrastierte Köhler diese
unternehmerische Selbstsicht mit einer Ursachenanalyse, die zeigte, dass
endogene Faktoren, insbesondere eine inadäquate Produkt- und
Sortimentspolitik und die patriarchalische Führungskultur, die
Hauptursachen für das Scheitern darstellten. Hingegen hätten die
exogenen Faktoren diese Schwächen nur schneller zum Tragen kommen
lassen. Anschließend gab CATHRIN KRONENBERG (Bonn) mit ihrem Referat
über die Stollwerck AG, Köln (1970/71) ein besonders drastisches
Beispiel von Missmanagement und Fehlentscheidungen. Auch Kronenberg sah
eine der Hauptursachen für das Scheitern in einer fehlerhaften Produkt-
und Sortimentspolitik, die auf Masse statt Qualität setzte. Obwohl die
Schwächen intern durchaus erkannt worden seien, wurde die Umsetzung
neuer Strategien durch Kommunikations- und Organisationsdefizite
verhindert. In seinem Kommentar plädierte CHRISTIAN KLEINSCHMIDT
(Marburg) für eine Analyse des Wissenstands der Zeitgenossen, die für
die Bewertung von Managementfehlern maßgeblich sein muss. Außerdem
verwies er auf die wichtige und zu wenig untersuchte Rolle von
Kontrollgremien und Mitbestimmungsregeln.

Mit dem Scheitern von Innovationen setzten sich anschließend REINHOLD
BAUER (Hamburg) und SILKE FENGLER (Wien) auseinander und stellten damit
den zu Anfang der Tagung diskutierten Bezug zu Schumpeters Bild der
„schöpferischen Zerstörung" wieder her. Bauer gab mit dem Hydrobergbau
und dem Stirlingmotor Beispiele für gescheiterte Innovationen der
1970er-Jahre, die ihm als Grundlage für seine theoretischen Überlegungen
einer historischen „Fehlschlagsforschung“ dienten. Dabei definierte
Bauer eine Innovation lediglich dann als erfolgreich, wenn es
grundsätzlich gelingt, durch ihre Vermarktung die entstandenen
Entwicklungskosten zu erwirtschaften. Im gleichen Feld setzte sich
Fengler mit dem Marktzutritt von Agfa-Gevaert Leverkusen in den USA
auseinander und bediente sich dafür eines evolutionsökonomischen
Ansatzes. Sie beschrieb, wie ein technischer Standard dominant wurde und
andere Konkurrenten als Ergebnis dieser Pfadabhängigkeit scheiterten. In
seinem Kommentar wies JAN-OTMAR HESSE (Göttingen) darauf hin, dass der
Schritt von Agfa in die USA auch als Erfolg interpretiert werden könne,
weil der Eintritt in den amerikanischen Markt gelang. Zudem gab er zu
bedenken, dass in dieser historischen Situation die Rolle der
maßgeblichen Wechselkursschwankungen berücksichtigt werden müsste. Er
stellte zur Diskussion, inwiefern innovatorisches Scheitern als
Sonderfall des ökonomischen Scheiterns untersucht werden müsste.

In seinem Schlusskommentar wies HANSJÖRG SIEGENTHALER (Zürich) auf
zentrale Ergebnisse der Vorträge und Diskussionen hin. Dabei betonte er,
dass eine historische Forschung, die sich mit Unternehmen beschäftigt,
immer zugleich über Erfolge und Misserfolge spreche (selbst, wenn das
Scheitern nicht explizit zum Thema gemacht werde). Folglich könne
lediglich eine Fokussierung auf das persönliche Scheitern eines Menschen
ein neues Forschungsfeld eröffnen. Dabei müssten Faktoren untersucht
werden, die das Handeln von Menschen beeinflussen (Restriktionen,
Präferenzen, Überzeugungen). Scheitern könne letztlich nur dann bewertet
werden, wenn die Motive des Handelns bekannt seien. Da die persönlichen
Präferenzen nicht mit den Selbstaussagen von Akteuren übereinstimmen und
sich auch nicht einem sozialen Feld (wie der Ökonomie) zuordnen lassen,
müsse ein Fokus auf dem biografischen Studium der Akteure liegen, auf
einer Analyse ihrer Umgebung und Mentalität.

Insgesamt thematisierte die Konferenz zentrale Probleme in der
Beschäftigung mit dem vielfältigen Thema Scheitern, die viele weitere
Fragen und Themenfelder öffneten. Die angeregten Diskussionen lieferten
erste Erkenntnisse, indem sie die Notwendigkeit aufzeigten,
unterschiedliche Definitionen von „Scheitern“ in Abhängigkeit von
Präferenzen zu bilden, die Formen von individuellem, institutionellem
und innovatorischem Scheitern auszudifferenzieren und die exogenen und
endogenen Einflussfaktoren immer im Kontext der (historischen)
Handlungschancen zu bewerten. Es ist zu wünschen, dass diese Ansätze in
dem angekündigten Tagungsband ausgearbeitet und veröffentlicht werden,
damit sie weiteren, bereits angekündigten Konferenzen zu den Themen
Krise und Scheitern als Grundlage dienen können.[1]


Anmerkung:
[1] Vgl. z.B. „Forschung tut not.“ Technik und Innovation in der
Weltwirtschaftskrise (1929-1933) - Düsseldorf 10/09, VDI Bereich
Technikgeschichte, Helmut Maier, Lehrstuhl für Technik- und
Umweltgeschichte, Ruhr-Universität Bochum.