014.png

Netzwerke – Modalitäten soziotechnischen Regierens

Veranstalter: Professur für Technikgeschichte, Stefan Kaufmann, David Gugerli

Datum, Ort: 26.09.2005-28.09.2005, Zürich

Bericht von: Stefan Kaufmann, ETH Zürich, ADM2, Technikgeschichte
E-Mail:

Ohne Frage ist ‚Netzwerk’ zu einer der dominanten Strukturbeschreibungen der Gegenwart avanciert. Wenn Ökonomen und Politologen von Netzwerken sprechen, wenn Sozial- und Kommunikationswissenschaftler eine Netzwerkgesellschaft entstehen sehen, beziehen sie sich auf eine Ausbreitung von Formen verteilter, weitgehend kommunikationstechnisch basierter Gesellschaftlichkeit. Ökonomische und politische Macht bildeten sich ebenso wie soziokulturelle Zusammenhänge in Form vernetzter Architekturen aus, überall seien vernetzte und netzförmige Abläufe, Organisationen und Institutionen am Werk. Historiker projizieren diese Diagnose in die Vergangenheit und sehen per Netzwerkanalyse plötzlich auch dort ganz andere Sozialbeziehungen auch am Werk. Zugleich ist zu beobachten, dass der Begriff Netzwerk nicht allein in deskriptiv-analytischer Form in der Gesellschaftsreflexion, sondern auch als handlungsleitendes Konzept in gesellschaftliche Praktiken einfließt.

Unter diesen Vorzeichen reflektierte die interdisziplinäre Tagung „Netzwerke“ in einer diskurs- und gouvernementalitätstheoretischen Perspektive. Die Kernfrage lautete, weshalb und unter welchen Umständen sich der Begriff in heterogensten Bereichen sozialen Zusammenlebens sowohl als deskriptives wie als handlungsleitendes Muster durchsetzen konnte.

Die erste Sektion unterzog das Netzwerkkonzept einer metapherntheoretischen und genealogischen Lektüre. Dabei analysierten Paul Edwards (School of Information, University of Michigan) und Erhard Schüttpelz (Medien- und Kulturwissenschaften, Universitäten Konstanz und Siegen) in ihren Vorträgen die historischen Konjunkturen und Verschiebungen des Netzwerkbegriffs. Sie lieferten zentrale Anhaltspunkte zur Klärung der Frage, wie sich die Wirkungsmacht der Metapher fassen lässt. Genealogisch liess sich skizzieren, dass der Begriff sich – als theoretischer und auch praktisch wirksamer – in langer historischer Linie aus zwei Quellen speist. Aus dem technischen Bereich kommend bezeichnete er seit Ende des 19. Jahrhunderts grosstechnische Infrastrukturen, denen der Effekt zugeschrieben wurde, die Gesellschaft zusammenzuschliessen. Im sozialen Bereich meinte er ursprünglich die informellen, kommunalen, nachbarschaftlichen Beziehungen. Diese einerseits makro- andererseits mikrogesellschaftliche Verwendung hat sich in der dominanten Verwendung des Begriffs geradezu umgekehrt: gegenwärtig ist er unter technischen Vorzeichen eher im mikrosoziologischen Bereich angesiedelt, unter sozialen hingegen wird er als makrosoziologische Gesellschaftstheorie verstanden. Der Schlüssel, der diese Verschiebung und die Kreuzung des Technischen mit dem Sozialen möglich machte, lässt sich in der Sichtbarmachung von Strukturen vermuten: Netzwerk erscheint sowohl in der Graphentheorie wie auch in der in den 1930er-Jahren im Psychodrama entwickelten Technik der Soziometrie als morphologischer Begriff, der ein Geflecht von Linien und Knotenpunkten meint. Soziales und Technisches wird damit auf eine gleiche Strukturbeschreibung reduziert und Relationierungen werden zum Kernproblem beider Bereiche: grosstechnischer Anlagen wie sozialer Konstellationen. Dies war Bedingung der Möglichkeit, dass mit der Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechniken, allen voran dem Internet zu Beginn der 1990er-Jahre, Netzwerk zur plausiblen Beschreibung einer „neuen“ gesellschaftlichen Konstellation werden konnte. In diesem Kontext zeigte Stefan Kaufmann (Technikgeschichte ETH Zürich) in seinem Beitrag zu netzwerkzentrischer Kriegführung empirisch, wie mit einem auf reine Strukturlogik reduzierten Blick heterogenste Bereiche kompatibel werden können: die Komplexität der Natur, des Marktes und die Komplexität des Krieges, die Steuerungstechniken für ökologische Problematiken, die Organisations- und Operationsformen von Wirtschaftsunternehmen, von subversiven und terroristischen Bewegungen wie die von staatlicher Gewaltorganisation. Die diskursive Wirksamkeit der Netzwerkmetapher ist schliesslich auch mit der Schwächung des bisher theoretisch dominanten Systembegriffs zu erklären, was Urs Stähelis (Institut für Soziologie Uni Basel) medientheoretische Analyse verdeutlichte. Sie zeigt, wie noch jede systemtheoretisch gedachte Reinheit von Funktionssystemen zwangsläufig netzwerkförmige Durchbrechungen erfährt, da alle gesellschaftlichen Funktionssysteme auf mediale Vermittlung angewiesen sind.

Der zweite Schwerpunkt der Tagung widmete sich der praktischen, mikrosoziologischen Wirksamkeit des Netzwerkdiskurses mit Blick auf die Implementierung von soziotechnischen Netzwerken und auf die netzwerkförmige Restrukturierung von Organisationen. Die Beiträge konnten in systematischer Weise verdeutlichen, unter welchen Bedingungen zunehmend netzwerkförmige Governance-Konstellationen am Werk sind. Netzwerkförmig, so präzisierten die Beitrage, meint nicht mehr hierarchisch organisierte, sondern weitgehend auf informellen Prozeduren und Methoden basierende, in Koordination von automatisierter und handlungsbasierter Steuerung sich vollziehende Prozesse und Interaktionen. Johannes Weyer (Universität Dortmund) lieferte einen systematischen Überblick über Bereiche, in denen die techniksoziologische Diskussion zunehmend Netzwerke am Werk sieht: Netzwerkförmigkeit zieht ein, wo es um Innovationen geht, wobei sich die Netze abhängig von Innovationsphasen je anders konstituieren; Netzwerkförmigkeit zieht ein, wo es um die Regelung von zunehmender Komplexität und Geschwindigkeit geht, wie etwa in der Regelung des Flugverkehrs; und Netzwerkförmigkeit zieht dort ein, wo Entscheidungen und Alltagsabläufe zunehmend durch automatisierte Verfahren gelöst werden: in hybriden Systemen aus Mensch und Maschine, wie sie sich mit „ubiquitous computing technologies“ zunehmend im Alltag verbreiten. Diese Heuristik der Probleme – Innovationsregulation, Komplexitätsregulation, Beschleunigungsregulation, medienvermittelte und vor allem digitale Rekodierung des Alltags – spiegelte sich in den empirischen Fallanalysen. Auch mit diesen Beispielen wurde eine Systematik verfolgt: Nicholas Auray (Ecole Nationale Supérieure des Télécommunications, Paris) verfolgte das Thema Innovationsnetzwerke mit seiner Analyse der Organisationsstrukturen und Verfahren im Feld von Open-Source Entwicklungen. Der Beitrag demonstrierte, mit welch ausgefeilten Verfahren, in netzbasierten Zusammenarbeiten Authentizität und Vertrauen hergestellt werden. Jörg Potthast (Wissenschaftszentrum Berlin) analysierte den Übergang von einfachen Verfahren der Gepäckverteilung auf Flughäfen zu komplexen Systemen, die neuen Herausforderungen in punkto Menge und beschleunigter Abwicklung begegnen sollten. Sein Beitrag verdeutlichte, dass traditionelle hierarchie- und formalbestimmte Formen der Organisation keineswegs einfach durch Netzwerke abgelöst werden. Vielmehr lasse sich eine komplexe Interdependenz von beiden Modi des Operierens beobachten. Mit der medialen und computertechnischen Rekodierung des Alltags beschäftigten sich die Beiträge von Barbara Bonhage (Technikgeschichte, ETH Zürich), Urs Stäheli und Dominique Linhardt (Centre de Sociologie de l'Innovation, Ècole de Mines, Paris). Bonhages Beitrag machte Linien einer strukturellen Transformation von Dienstleister-Kundennetzwerken durch mediale Integration am Beispiel der Einbeziehung von Privatkunden ins Bankensystem durch die Einführung von Lohnkonten sichtbar. Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart, mit der Umstellung auf internetbasierte Kontoführung, zeigt sich hier ein Rationalisierungsprozess der Verwaltung, welcher auf komplexen technischen, organisatorischen und soziokulturellen Wandlungen im Umgang mit Geld beruht. Stäheli arbeitete solche Umstellungen im Fall der Integration neuer Akteure in Finanzmärkte aus. Mit medialer Integration, so zeigte er am Beispiel des Börsentickers und des Gerüchts, entstehen je anders gelagerte Akteurskonstellationen am Finanzmarkt, die dessen Funktionsweise nicht unberührt lassen. Rein systemtheoretische Erklärungen solcher Märkte, so seine Hauptthese, sind daher zum Scheitern verurteilt. Linhardt schliesslich konnte aufklären, wie neue Verbrechensformen im Internet in juridische und polizeiliche Verfahren der Verbrechensdefinition, Aufdeckung und Beweissicherung integriert werden. Er verdeutlichte, dass spektakuläre Erzählungen von einem radikalen Wandel des Verbrechens, der Polizei- und der Justizarbeit durch internetbasierte Vergehen sich bei einer ethnographischen Beobachtung der Strafverfolgung weitgehend verflüchtigen.

Regierungsformen basieren auf bestimmten Formen der Kontrollausübung und bringen spezifische Formen von Subjektivität hervor. Mit deren netzwerkförmigen Rekodierungen beschäftigte sich der dritte Schwerpunkt der Tagung. Netzwerkgesellschaft wird sehr häufig als Fortschreibung der gesellschaftlichen Kontrollformation gesehen, die Foucault mit dem Panoptikum aufsteigen sah. Der Verweis auf um sich greifende Möglichkeiten, zu überwachen und Daten zu sammeln, wird nicht selten als Forcierung panoptischer Regulation zum „Hyperpanoptikum“ begriffen. Mit dieser Sichtweise setzte sich die Tagung auf drei Ebenen auseinander: Michalis Lianos (Centre for Empirically Informed Social Theory, University of Portsmouth, Université de Caen) analysierte in makrosoziologischer Perspektive die Transformation der Rolle und Konstitution von Organisationen in der Moderne. Sein Fazit war, dass man eine enorme Expansion institutioneller Module – seien sie technischer, soziotechnischer oder rein sozialer Existenz – beobachten könne. Der Alltag wird weitestgehend durch organisatorisch geregelte Funktionsabläufe bestimmt, Individuen sind in all ihren Alltagsvollzügen an institutionelle Netze angeschlossen. Die Differenz zu Institutionen der klassischen Moderne bestimmt sich im Wesentlichen durch zwei Momente, die Integration beruht zum einen auf Freiwilligkeit und zum zweiten zielt sie auf Effektivierung von Prozessen, nicht auf die (moralische) Erziehung von Personen. Während die panoptische Regulation eine moralische Kontrolle errichtet, geht es nun lediglich um oberflächliche Verhaltensregulationen und Effektivierungen. Damit verbunden sind neue Formen von Subjektivierung: nicht mehr moralische, sondern flexible, „modulare“ Individuen bilden den Gegenpart netzwerkförmig multiplizierter Institutionalisierung. Paul Edwards hat solche Modularisierungsprozesse exemplarisch am Beispiel des Niedergangs des disziplinierten, in soziale Netzwerke eingebundenen Expertens zugunsten eines Typus des Wissenssammlers beschrieben, der Plagiarismus, Sampling und Linking betreibt, weniger durch soziale Netze denn durch technische „Links“ bestimmt ist, weniger an Moral und Disziplin gebunden ist. Dies gilt noch, wie Stefan Kaufmann nachwies, für den Soldaten, der in ein das Schlachtfeld umfassendes Informationsnetz eingebunden werden soll. Auch dieser soll sich durch Multitasking, Selbstorganisation und Selbstadaption auszeichnen, während die klassischen Kontrollformen durch Einordnung in eine Hierarchie von Befehl und Gehorsam in den Hintergrund treten.

Die Veranstalter hatten den Eindruck, dass das Experiment, international und interdisziplinär verortete Experten zum Thema zusammenzuführen, gelungen ist. Daher ist für den Sommer nächsten Jahres ein Tagungsband in Planung.