„Leben heißt ein Kämpfer sein“ – Die Konsolidierung der modernen Eisenhüttenkunde an der TH Aachen
Stefan Krebs
Am 1. Oktober 1901 trat Fritz Wüst die Nachfolge von Ernst Friedrich Dürre auf dem Aachener
Lehrstuhl für Eisenhütten- und Eisenprobierkunde an. Bereits vier Jahre zuvor war Wilhelm
Borchers zum Professor für Allgemeine Hüttenkunde an der Aachener Hochschule ernannt
worden. Während Dürre – folgt man dem Dresdener Modell der Disziplingenese der
Technikwissenschaften – noch ein typischer Vertreter der Herausbildungsphase der Hüttenkunde
war, beginnt mit den Berufungen von Wüst und Borchers die sogenannte Konsolidierungsphase.
Das Programm der modernen Hüttenkunde, wie es von den Aachenern Professoren gemeinsam
formuliert wurde, betonte die neue Rolle von Laborforschung und Theoriebildung. Neben einer
Reform des Studienganges und der weiteren Ausdifferenzierung des Fachs durch eine zweite
Professur für Eisenhüttenkunde kämpfte Wüst mit seinem Kollegen Borchers für den Auf- und
Ausbau der Forschungskapazitäten durch den Neubau eines Instituts für das gesamte
Hüttenwesen.
Widerstand gegen die Aachener Pläne kam nicht allein von den anderen deutschen Hochschulen
und Bergakademien, auch innerhalb der Eisenindustrie war die Notwendigkeit der
Verwissenschaftlichung der Hüttenkunde keineswegs allgemein anerkannt. Um ihre Positionen
und Interessen durchzusetzen, versuchten Wüst und Borchers daher, wie sie es selbst nannten,
„Bundesgenossen“ für sich zu gewinnen.
Der Beitrag geht der Frage nach wie die Aachener Professoren Akteurskonstellationen konstruierten, um die Machtverhältnisse zu Gunsten der Aachener Hochschule zu verschieben.
Wissenschaft und Öffentlichkeit werden dazu im Sinne des Wiener Historikers Mitchell G. Ash
als Ressource füreinander verstanden; d.h. die entstandenen Allianzen werden als Wandlungen
der Vernetzungen von Akteuren und die Konstruktion von Teilöffentlichkeiten beschrieben.
Über die Gründung eigener Fachzeitschriften und Vereine, über die Kooperation mit der Industrie
und den Interessenverbänden sowie der Berliner Politik mobilisierten Wüst und Borchers
spezifische Öffentlichkeiten für sich und verknüpften so die Aachener Hüttenkunde vielfältig mit
dem sozialen Geflecht des Deutschen Kaiserreiches. Insbesondere Wüst verstand es, in seinen
Vorträgen und Publikationen die Resonanzbedingungen seiner Zeit zu erkennen und für seine
Anliegen zu nutzen. So stilisierte er beispielsweise die moderne Eisenhüttenkunde zur Antriebs-
und Gestaltungskraft für die Weltmachtambitionen des Deutschen Kaiserreiches. In den Worten
von Wüst war die Förderung der Eisenhüttenkunde eine nationale Notwendigkeit. Diese Politik
für die Wissenschaft zeigt, wie auf institutioneller und intellektueller Ebene die Verflechtung
wissenschaftlicher und politischer Zielsetzungen erfolgte.
Betrachtet man abschließend die zahlreichen Interaktions- und Aushandlungsprozesse, so zeigt
sich anhand ausgewählter Beispiele, dass Wüst und Borchers das Ressourcenensemble der
Aachener Hüttenkunde sehr erfolgreich ausgebaut haben: Bereits 1905 überstieg die Anzahl der
Studierenden der Hüttenkunde in Aachen die der anderen deutschen Hochschulen. Am 11. Juni
1910 wurde der eineinhalb Million Mark teure Neubau eingeweiht – ein Drittel der Bausumme
war durch private Spenden finanziert worden. Und 1913 waren erstmals mehr als die Hälfte aller
Studierenden für Hüttenkunde an der Aachener Hochschule eingeschrieben.