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Arne Schirrmacher

Wer sollte all das lesen? – Die Neuausrichtung des naturwissenschaftlich-
technischen Vermittlungssystems auf eine sich differenzierende Öffentlichkeit
zwischen Nachfrage und Kommerz, 1900-1933

Die Geschichte der Wechselwirkungen von Wissenschaft und Öffentlichkeit wurde als
Geschichte der Wissenschaftspopularisierung in der jüngeren Zeit für das 19. Jahrhundert
insbesondere in Deutschland eingehender untersucht. Die Bildungsvorstellungen einer bürgerlich
geprägten Gesellschaft standen dabei im Vordergrund, eher nachrangig dahinter waren
Nützlichkeits- und Unterhaltungsaspekte sowie die kommerziellen Ziele der Verlage.

Ich möchte in dem Vortrag die Entwicklung des Zeitschriften- und Buchreihenmarktes am
Anfang des 20. Jahrhunderts genauer betrachten, der sich der Vermittlung wissenschaftlichen und
technologischen Grundlagenwissens angenommen hatte. Dabei ist die Perspektive der
Popularisierung einer Fachwissenschaft an einen Laien weiterzuentwickeln hin zu einer
differenzierten Vermittlung von unterschiedlich aufbereiteten Wissensbeständen zwischen
verschiedenen Stufen von Fachwissenschaft, allgemeineren Fachkreisen oder einer engeren
„Fachöffentlichkeit“ auf der einen Seite an Teilöffentlichkeiten, die aus interessierten und
vorgebildeten Adressaten bestehen, aus gelegentlich interessierten Lesern oder Ausstellungsbesuchern oder Mitgliedern einer breiten Massenöffentlichkeit ohne derartige Affinitäten auf der anderen Seite. Das sich etwa zur Wende zum 20. Jahrhundert reorganisierende Vermittlungssystem aus Zeitschriften und Buchreihen entwickelte dabei vielfältige Vermittlungsangebote zwischen diesen verschiedenen Ebenen von Wissenschaft und Öffentlichkeit.

Typische Organe dieses neuen Vermittlungsmodus des 20. Jahrhunderts waren etwa Die Umschau über die Fortschritte in Wissenschaft und Technik die 1897 begründet wurde und die sich bereits durch ihre reiche Bebilderung von jeder etablierten naturwissenschaftlichen Rundschau oder Wochenschrift abhob, oder der seit 1904 erscheinende Kosmos, der als erste Lesevereins-Konstruktion von Zeitschrift mit ergänzenden Büchergaben an die Mitglieder eine neues verlegerisches Konzept verwirklichte und bereits im achten Jahr seines Bestehens 100.000
und nach der Inflationszeit über 200.000 Abonnenten anziehen konnte, obwohl bereits 1910 mit der Natur eine Konzeptkopie dieser erfolgreichen Zeitschrift von einem konkurrierenden Verlag lanciert worden war. Diese neue Öffnung der Wissenschaftsvermittlung an eine breite Massenöffentlichkeit war ein Signum des 20. Jahrhunderts und Zeichen für wirtschaftlich nutzbare Erwartungshorizonte verschiedener Öffentlichkeitsschichten.

In einem zweiten Teil möchte ich exemplarisch zeigen, wie innerhalb dieses ausdifferenzierten
zeitschriften- und buchreihenbasierten Wissensvermittlungssystems im ersten Drittel des 20.
Jahrhunderts wissenschaftliche und technische Innovationen an verschiedene
Öffentlichkeitsschichten kommuniziert wurden. Am Beispiel von Konjunkturen der
Berichterstattung etwa zu Themen wie Atom, Genetik, Bildtelegraphie oder Eisenbetonbau soll
aufgezeigt werden, in welchem diskursiven Feld Ebenen von Wissenschaft/Technik und
Öffentlichkeit wechselwirkten und welche Rückwirkungen sich für die wissensgenerierenden Instanzen durch die Auseinandersetzung mit den verschiedenartigen Öffentlichkeiten ergaben.