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Wegwerfen. Eine Geschichte der Wegwerfgesellsellschaft

 Der Ethnologe Karl-Heinz Kohl erzählt in seiner Monographien Die Macht der Dinge (2003) eine kleine, sehr aufschlussreiche Anekdote. Er berichtet, wie er in den 1980er Jahren mit seiner Familie zu Forschungszwecken auf eine indonesische Insel reiste und dort mit drei großen Aluminiumkisten und sechs tropenfesten Koffern eintraf. Die Dorfbewohner beobachteten dies mit Staunen. Ihrem Empfinden nach stopfte der Fremde sein Haus mit einer Unzahl von Dingen voll, während ihre eigenen Räume recht leer waren und viele Dinge nur zu  Zeremonialanlässen gezeigt werden. Was der Fremde hinter seinem Haus in die Abfallgrube wegwarf, wurde von den Dorfbewohnern sogleich genutzt. Der ungewohnte Umgang mit der Fülle der Dinge und vor allem das Wegwerfen irritierte die Dorfbewohner.

 Der Umgang mit Dingen, die Wertschätzung von Dingen sowie die Haltung zum Wegwerfen von Dingen unterscheidet sich in unterschiedlichen Kulturen und natürlich auch historisch.

In der westlichen Welt leben wir heute, so wird häufig kritisiert, in einer „Wegwerfgesellschaft“. Der Begriff Wegwerfgesellschaft entstand in den 1970er Jahren aus der Kritik an einer Konsumkultur, die durch Verschwenden, Kurzlebigkeit und Austauschbarkeit und die sorglose Entledigung von Dingen charakterisiert sei, so die kritische Diagnose. Sie ist demnach gekennzeichnet durch ein historisch neues Verhältnis der Menschen zu den Dingen.

 Eine Geschichte der Wegwerfgesellschaft ist bislang – überraschender Weise – noch nicht geschrieben, obwohl sich verstreut in Forschungen zur Konsumgesellschaft einige Hinweise finden. Diese Geschichte ist gewissermaßen in einem fragmentierten Zustand und wartet nicht nur auf eine Synthese und systematische Aufarbeitung, sondern aus einer Geschichte der Wegwerfgesellschaft werden sich wichtige Erkenntnisse über unsere Kultur und unseren Lebensstil, insbesondere unsere materielle Kultur, die Produktkultur und unser Verhältnis zu Dingen gewinnen lassen.

 Wegwerfen stellt heute eine kulturelle Praxis dar, die – trotz mannigfacher Kritik seit den 1970er Jahren – kaum bewusst ist, sondern vielmehr alltäglich praktiziert wird. Nun könnte man sagen, dass die Menschen schon immer weggeworfen haben, dass dies zum Umgang mit Dingen hinzugehört. Der Teminus „Wegwerfgesellschaft“ meint aber ein eher sorgloses, selbstverständliches Wegwerfen. Funktionsfähige, kaum benutzte, gar neue Dinge werden weggeworfen, weil es etwas Neues gibt, weil es nicht mehr gefällt, weil sich die Mode verändert hat. Zu dieser kulturellen Praxis des Wegwerfens gehört auch eine Kultur der Verschwendung, eine Kultur der Kurzlebigkeit und Austauschbarkeit von Dingen; wie diese entstand, gilt es zu erforschen.

Ziel des Forschungsprojektes ist es, zu untersuchen, wie sich diese kulturelle Praxis des Wegwerfens entwickelte, wie Wegwerfen zu so etwas Selbstverständlichem werden konnte. Es geht damit auch um eine Kulturgeschichte der Dinge, um eine Geschichte des Mensch-Ding-Verhältnisses. Eine solche breit angelegte Kulturgeschichte einer Wegwerfgesellschaft umfasst weitaus mehr als die unmittelbare Praxis des Wegwerfens. Zu ihr gehören die jeweiligen zeitgenössischen Wertvorstellungen, der jeweilige Lebensstil, die Gestaltung und Materialität der Dinge selbst, also der Zustand unserer materiellen Kultur, weiter ihre Produktion, mithin eine Produktionsgeschichte, weiter eine Mentalitätsgeschichte, die die Haltung zu Verschwenden und Verbrauch untersucht, die Werbegeschichte, die die Konnotationen von Sparen und Verschwenden erzeugt und dazu gehört auch die Geschichte der Gegenbewegungen, also Gegenentwürfe zur Luxus- und Überflussgesellschaft und damit die Versuche, Dinge langlebig, wertvoll zu machen, sie wiederzuverwerten.

 Vor allem müssen auch die Dinge selbst in den Blick geraten. Dinge, Artekfakte, unsere materielle Kultur sind dabei immer auch Ausdruck des Verhältnisses einer Kultur zur Technik. Unsere materielle Kultur, und im engeren Sinne die Wegwerfprodukte, sind nicht nur ein Produkt technischer Entwicklungen wie der technisierten Massenproduktion und technisierter Produktionsverfahren. Dinge sind vielmehr auch zentraler Bestandteil unserer technischen Kultur und sie verkörpern unser Verhältnis zu Technik, seien es hoch technisierte Dinge, die von einer Technikfaszination zeugen, oder die Rückkehr zur Einfachheit, die gerade versucht, Dinge möglichst reduziert zu gestalten. Oder seien es Dinge, die  in ihrer Materialität als Ausdruck einer Technikkritik sowie gleichzeitig als Kritik an einer Wegwerfgesellschaft konzipiert wurden, wie beispielsweise die Produkte des Öko-Design der 1970er Jahre. Wesentlicher Teil des Forschungsprojektes ist es also, die Form, die Gestalt, die Materialität der Dinge selbst zu betrachten und daraufhin zu untersuchen, was sie über das Verhältnis der Menschen zu den Dingen aussagen.

 Eine Geschichte der Wegwerfgesellschaft wird sich auf vier eng verflochtene, zentrale Aspekte konzentrieren: Dinge selbst, ihre Produktion, der Umgang mit Dingen (die Dingpraxis wie die Mentalität) und der Lebensstil einer Epoche.

 

Disposability. A history of the throw-away society

The ethnologist Karl-Heinz Kohl tells a short but highly revealing anecdote in his monograph Die Macht der Dinge (The Power of Things, 2003). He relates that he travelled with his family to an Indonesian island for research purposes in the 1980s and arrived with three large aluminium boxes and six tropicalized trunks. The villagers watched his arrival with astonishment. In their eyes, the stranger crammed his house with a profusion of things, while their rooms were kept relatively empty and only on ceremonial occasions were many things displayed. Whatever the stranger threw away into the rubbish pit behind his house was immediately reused by the villagers. They were puzzled both by the abundance of things in the stranger's possession and by his readiness to dispense with them.

The way one deals with things, the value one attaches to things, and one's attitude towards disposing of things differ from culture to culture and, of course, from epoch to epoch.

Today in the western world we live in a throw-away society, as has been the subject of much criticism. The concept of a throw-away society emerged in the 1970s, born of a critique of a consumer culture that was characterized by wastefulness, [planned obsolescence,] non-durability, replaceability and a devil-may-care attitude towards the disposal of things – such was the critical diagnosis. This culture represents a historically new relationship of people to things.

Surprisingly perhaps, a history of the throw-away society is yet to be written, although scattered rudiments may be found in published research on the consumer society. The history is in a fragmentary state, so to speak, and awaits synthesis and systematic processing. A history of the throw-away society will undoubtedly yield valuable insights into our culture and lifestyle, in particular our material culture, product culture and our relationship with things.

Disposability today – in spite of widespread criticism since the 1970s – is a cultural practice we give no thought to and are hardly even aware of. It is practised by us all on a daily basis. One might counter, of course, that people have always thrown things away; that disposal is part of our way of dealing with things. What is meant by the term "throw-away society", however, is utterly carefree disposal, throwing away as a matter of course. Functioning things, hardly used, even new things get thrown away, because something newer comes along, or because the fashion has changed or the item simply no longer finds favour with us. This cultural practice of throwing away is bound up with a culture of wastefulness, a culture that puts a premium on non-durable and replaceable things. How this state of affairs came about is what we propose to study.

The aim of the research project, then, is to investigate how this cultural practice of throwing things away evolved and how it came to be such a matter of course. Thus we are also dealing with a cultural history of things, a history of people's relationship to things. Such a broadly based cultural history of a throw-away society encompasses much more than the specific practice of throwing things away. It must also consider the value judgements prevailing at various times, changing lifestyles, the design and materiality of the things themselves, the state of our material culture, as well as its production, including a history of production, in addition to a history of mentalities which examines attitudes towards wastefulness and consumption, a history of marketing which engenders the connotations of saving and wasting, and it furthermore includes a history of counter-movements and conceptional alternatives to the affluent, luxury-oriented society, and hence the attempts to make things long-lasting and valuable and to recycle things.

Above all, our attention must be focused on the things themselves. Things, artefacts, material culture are always a manifestation of the relationship of a culture towards technology. Our material culture, and more narrowly the disposable artefacts, are not only a product of technological developments such as mass production and mechanized or technologized production processes. Things are also a central element of our technological culture, and embody our attitude towards technology, whether they are devices of great sophistication which testify to a fascination with technology, or less hi-tech artefacts that proclaim a return to simplicity and are reduced to the minimum possible in terms of design. Or indeed whether they are things which have been conceived in their materiality to express a critique of technology and a repudiation of the throw-away society, such as the products of the eco-design of the 1970s. Therefore it is important that our research project also considers the form, the design, the materiality of the things themselves with the aim of discovering what they say about people's relationship to things.

A history of the throw-away society will concentrate on four closely interlinked, central aspects: the things themselves, their production, their use (artefactual practice as well as attitudes and mentality) and the lifestyle of a given epoch.

 

Geschichte der Dinge

Ziele

GTG

Mitglieder

Forschungsprojekte

Martina Heßler

Stefan Krebs

Nina Lorkowski

Nina Möllers

Monika Röther

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